Glenraven
warst, und weil du eine Rivalin bist, auch wenn du bereits geschlagen bist, wird sie keine Zeit mit dir verschwenden. Sie wird dich genauso rasch töten wie Sophie.«
Jay konnte ihre Finger wieder bewegen. Sie fuhr herum, packte das kleine Ungeheuer bei den Schultern und brachte ihr Gesicht ganz nah an seines. »Schutzherrin? Ich werde niemandes Schutzherrin sein. Verstehst du nicht? Darum geht es nicht mehr, falls es das je getan hat. Ich weiß, daß ich sterben werde. Aber sie hat meine Freundin getötet, und so kommt sie mir nicht davon.«
Hyultif schüttelte ihren Griff ab und blinzelte zu ihr hinauf. »Ich glaube, ich verstehe allmählich, was Glenraven mit dir wollte. Aber es ist sinnlos, und ich vergeude meine Zeit nicht mit Sinnlosigkeiten. Du hast keine Magie, du hast keinerlei Talente, und du kannst nicht ernsthaft hoffen, die stärkste Kintari zu besiegen, die Glenraven je gesehen hat. Das ist eine Tatsache.«
»Warum hast du mir dann überhaupt geholfen? Wenn du einfach nur dastehen willst, dir in die Hose machst und darüber jammerst, wie hilflos wir sind, warum hast du dann nicht zugelassen, daß dein Onkel, oder was immer er auch war, mich zwingt, ihn zu heiraten? Ich nehme jedenfalls an, daß das die korrekte Analogie ist - Heirat. Wenigstens hatte er einen Plan. Wenigstens saß er nicht nur auf seinem Hintern und wartete auf das Ende der Welt.«
Hyultif bellte. Jay erkannte, daß das seine Art zu lachen war. »Nein«, sagte er, »mein Onkel saß nie einfach nur auf seinem Hintern. Also, du willst etwas tun?«
»Ich werde etwas tun. Du wirst mir zeigen, wie ich zu Aidris komme, und dann nehme ich sie auseinander.«
Das kleine Ungeheuer begann zu lächeln. »Also, wenn wir mit großem dramatischem Getöse sterben, dann helfe ich dir. Sie hat meine gesamte Familie umgebracht, als ich noch ein Säugling war, und hat mich seit über hundert Jahren als Sklaven gehalten. Ich wollte immer derjenige sein, der sie umbringt.«
»Dann gehen wir.«
Er nickte. »Allerdings. Deine Sachen liegen da in der Ecke. Falls du irgendwelche Waffen hast, schlage ich vor, du holst sie. Du wirst sie brauchen.«
Jay hatte das Schwert, das Matthiall ihr gegeben hatte, und das Messer, das sie seit ihrer Ankunft bei sich trug - dasjenige, das sie von Lestovru bekommen hatte. Sie schnallte das Schwert um und dann auch noch den Dolchgürtel. Sie hielt es zwar für ziemlich albern, schließlich hatte sie keine Erfahrung mit Klingen und nicht die geringste darin, auch noch mit links kämpfen zu müssen, aber…
»Ist das alles?« Hyultif hob die Stellen seiner pelzigen Stirn, wo bei einem Menschen die Augenbrauen gewesen wären. »Das sind deine Waffen? Zwei Stöckchen?«
»Das ist alles, was ich habe.«
»Na, vielleicht werden eines Tages ein paar Narren Lieder darüber schreiben, wie ich die böse Schutzherrin mit magischem Feuer, Schnee und einem Festmahl aus Müll ablenkte, während du sie mit deinen zwei Stöckchen angriffst. Ich bin sicher, es wird heißen, daß wir tapfer gestorben sind«, sagte er. »Obwohl ich eigentlich hoffte, überhaupt nicht zu sterben.« Er seufzte tief. »Gehen wir.«
KAPITEL ZWEIUNDSECHZIG
Sophie unterbrach ihre Unterhaltung mit Karen, als sie bemerkte, daß sich eine schweigende Menge um sie versammelt hatte. Es waren Menschen - insofern Schatten Menschen waren. Sie hatten eine Gestalt und bewegten sich, besaßen jedoch weder Tiefe noch Leben. Sie paßten in das dunkle, leere Nichts des Ortes, an dem sie Karen begegnet war - paßten zu dem Ort und machten ihn noch abweisender und öder, als er ohnehin war. Sie waren, dachte sie, die passenden Bewohner des Totenreichs. Sie gaben keinen Laut von sich, aber ihre Gegenwart schien die Luft, die Sophie atmete, niederzudrücken, und eine Kälte durchdrang ihr Blut und ihre Knochen, die sie zittern ließ, obwohl die Schatten sie nicht einmal berührt hatten.
Sie spürte, wie sich zwischen ihr und Karen eine Kluft auftat, eine plötzliche, beängstigende, schmerzliche Leere, die so tief und häßlich gähnte wie der Tod, der sie zuerst getrennt hatte. »Was ist los?« fragte sie ihre Tochter laut.
Karen sah ihre Mutter an, ihre Augen suchten nach etwas, das sie offenbar nicht finden konnten. »Du hast nicht mehr viel Zeit.«
»Zeit? Wofür?«
»Um dich zu entscheiden.«
Sophie war verwirrt. »Entscheiden? Wofür?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
Nicht: ich weiß es nicht , sondern: das kann ich dir nicht sagen . »Aber du weißt es,
Weitere Kostenlose Bücher