Glenraven
immer noch in der Lage war, ihn zu fühlen. Und sie fühlte ihn.
Mama! Du bist es!
Sophie sah Licht, das sich im Licht formte, und plötzlich sah sie ihre Tochter, nicht so, wie sie als Kind ausgesehen hatte, aber trotzdem unverkennbar. Sie lief auf Karen zu und umarmte sie, dann hielten sie beide sich in den Armen, für einen Moment oder eine Ewigkeit.
Oh, mein Baby, wie geht es dir?
Mir geht es gut, Mama. Ich habe auf dich gewartet… aber ich habe dich noch nicht erwartet.
Sophie lachte, überschäumend vor Freude. Nun, jetzt bin ich da.
Karen nickte, ernst und nicht so überschwenglich, wie Sophie es erwartet hatte. Ich weiß. Ich weiß nur nicht, warum. Ich glaube nicht, daß du schon hier sein solltest.
Sophie versuchte sich vorzustellen, warum sie nicht bei Karen sein sollte, und konnte es nicht. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was sie getan hatte, ehe sie Karen gefunden hatte, oder wo sie gewesen war und wie sie dorthin gekommen war, wo sie jetzt war. All das war ihr ein Rätsel.
Ich habe dich beobachtet, Mama. Du fingst gerade an, dich besser zu fühlen. Du warst wieder bereit zu leben.
Sophie sah ihre Tochter an. Du hast mich beobachtet?
Immer. Ich wollte, daß es dir gut geht, und endlich sah es so aus, als würde es dir tatsächlich wieder besser gehen.
Sophie dachte nach, dann nickte sie. Ja. Daran konnte sie sich erinnern. Irgend etwas hatte sie dazu gebracht, wieder leben zu wollen. Sie hatte mit ihrer Liebe zu Mitch gekämpft, aber das erschien ihr jetzt nur dumm, denn plötzlich erkannte sie, daß sie ihn noch mehr liebte als an dem Tag, an dem sie ihn geheiratet hatte. Sie konnte ihre Liebe zu ihm spüren, gewachsen und fest und klar. Sie war verwirrt gewesen über ihre Freundin Lorin… aber warum nur? Lorin war ihre Freundin. Sie hatten sich vorher schon gekannt, und sie würden sich wieder kennenlernen. Aber in diesem Leben würden sie Freunde bleiben. Nichts weiter als Freunde.
Wie konnten die Dinge nur so verworren werden?
Und Karen hatte über sie gewacht, sich Sorgen um sie gemacht, weil sie zugelassen hatte, daß sie in der Dunkelheit umherwanderte, weil sie sich geweigert hatte, einen Tag nach dem anderen zu leben, weil sie sich statt dessen in ihrem Schmerz eingerollt und sich geweigert hatte, weiterzumachen. Sie hatte gewußt, daß Karen nicht fort war, daß der Tod ihre Tochter nicht zerstört hatte. Warum hatte sie nicht auf das vertraut, was sie wußte?
Weil ich Angst hatte, dachte sie. Angst hatte zu leben. Aber all das habe ich geändert.
Wie bin ich hergekommen? fragte sie Karen.
Erinnerst du dich an Glenraven? Erinnerst du dich an Callion?
Und plötzlich erinnerte Karen sich. Er hat mich vergiftet. Er hat mich umgebracht.
Ich weiß. Aber sie brauchen dich noch immer, Mama.
Sie… ?
Du weißt schon wer.
Als sie darüber nachdachte, merkte Sophie, daß sie auch diese Wahrheit kannte. Viele Menschen brauchten sie. Mitch brauchte sie. Und ihre Freundin Lorin. Das Kind, das auf ihre Bereitschaft wartete, es zur Welt zu bringen. Menschen in Glenraven brauchten sie. Sie hatte noch so viel zu tun… so viel zu leben. So viele Dinge noch zu erledigen.
Aber sie war tot.
Ein unüberwindliches Problem.
KAPITEL EINUNDSECHZIG
Jayjay versuchte, sich die Augen zu reiben, aber die Hände gehorchten ihr nicht. Statt dessen blinzelte sie und versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie war und was vor sich ging. Nichts ergab einen Sinn.
Ihre Arme lagen über ihrem Kopf. Noch einmal versuchte sie, sie zu bewegen, und endlich erkannte sie, daß ihre Handgelenke mit Stricken zusammengebunden waren. Ihr dämmerte, was das bedeutete, und sie schauderte. Gefesselt zu sein war ein schlechtes Zeichen. Was hatte sie getan, daß man sie gefesselt hatte? Sie wollte schreien, doch es kam nur ein erstickter, unverständlicher Laut heraus. Sie begriff, daß der scheußliche Geschmack in ihrem Mund von einem Knebel kam. Die Beine konnte sie auch nicht bewegen. Ebenfalls gefesselt.
Sie fühlte sich erbärmlich, schwach und krank, ihr war übel, sie fror, ihr Kopf dröhnte, und ihre Nebenhöhlen waren so verstopft, daß sie kaum Luft bekam. Vielleicht bekam sie Fieber. Vielleicht brütete sie eine Grippe aus.
Vielleicht bekam sie auch die Pest, wenn man in Betracht zog, wo sie war.
Schließlich gelang es ihr doch, die verklebten Augen zu öffnen.
Callion stand über ihr und grinste abstoßend. »Endlich bist du wach. Das Gegengift hat gewirkt. Gut. Ich hatte schon Angst, du
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