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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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zurückgekehrt und dort abgestürzt war.
    Er klammerte sich immer noch an die schwache Hoffnung, dass sein Bruder die Bruchlandung vielleicht überlebt hatte und sich bald melden würde. Das geschah aber nicht.
    Als bei der Militärregierung in Reykjavik die Meldung 302

    einging, dass die Maschine in der Nähe des Vatnajökull gesichtet worden war, wurde Miller mit der Leitung der Suchaktion beauftragt. Während das Flugzeug vermisst wurde, war er ständig zwischen Hotel Borg und dem Flugplatz hin und her geirrt und hatte an das Schicksal der Maschine mit seinem Bruder an Bord gedacht, ohne etwas tun zu können, ohne in Aktion treten zu können. Sie mussten bald zurück nach Washington, und für Miller war es ein furchtbarer Gedanke, nicht zu wissen, was aus seinem Bruder geworden war. Als die Meldung aus Höfn einging, traf es ihn wie ein elektrischer Schlag. Ihm war auf der Stelle klar, dass sein Bruder gefunden war. Er konnte sogar noch am Leben sein, obwohl niemand besser als Miller wusste, wie verschwindend gering die Wahrscheinlichkeit war.
    Er würde aber zumindest seinen Leichnam in die Heimat überführen können.
    Miller kannte aber dieses Winterland nicht. Wegen eines neuen Sturms, der wieder über den Südosten der Insel hinwegging, war an einen Flug nach Höfn gar nicht zu denken.
    Zudem stellte sich heraus, dass man Höfn auch auf dem Landweg nicht ohne weiteres erreichen konnte, denn an der Südküste gab es gefährliche, unüberbrückte Gletscherflüsse, die über riesige unwegsame Sander strömten. Man musste also nach Norden und um die ganze Insel herumfahren, was sehr viel länger dauerte. Außerdem waren die Straßen in einem miserablen Zustand. Der Kommandeur der amerikanischen Besatzungstruppen in Island, General Cortlandt Parker, stellte ihm zweihundert von seinen besten Männern zur Verfügung, von denen einige im Herbst an einem Wintermanöver auf dem Eiríksjökull teilgenommen hatten. Die meisten hatten jedoch keinerlei Erfahrung mit Expeditionen im Schnee. Auf der Fahrt zum Gletscher folgten sie undeutlichen Fahrspuren und mussten den Konvoi durch meterhohe Schneewehen schaufeln, in denen sie immer wieder stecken blieben. Die Zeit, die sie brauchten, 303

    um die Insel auf der nördlichen Route zu umrunden, war für Miller qualvoll.
    In den Ostfjorden besserten sich sowohl das Wetter als auch der Straßenzustand. Als sie endlich am vierten Tag Höfn erreichten, machte Miller sich unverzüglich auf den Weg zu den Brüdern, die als Letzte die Maschine gesehen hatten. Die beiden erwiesen sich als äußerst hilfsbereit und gaben ihm wichtige Hinweise für die Suche auf dem Gletscher, aber sie warnten ihn auch, sich nicht zu große Hoffnungen zu machen. Miller hatte es überrascht, wie einfach der Anstieg zum Gletscher trotz der Schneemassen war, die in den letzten Tagen vom Himmel heruntergekommen waren. Die Brüder zeigten ihm die Richtung, in die ihrer Meinung nach die Junkers geflogen war, sie begleiteten ihn auf den Gletscher, liehen ihm Pferde und ließen ihm alle erdenkliche Hilfe zuteil werden. Sie freundeten sich miteinander an.
    Aber es war alles vergebens. Miller hatte es den Mienen der beiden Brüder bereits angesehen, als er das erste Mal mit ihnen sprach und ihnen sein Anliegen vortrug. Er hatte die Blicke gesehen, die sie einander zuwarfen. Der Gletscher wurde systematisch abgesucht. Die Soldaten teilten das Gelände ein, gingen in Reihen über den Gletscher und stocherten mit drei Meter langen Stangen im Schnee, fanden aber nichts. Das Einzige, was sie entdeckten, war die Felge des Bugrads, alles andere hatte der Gletscher geschluckt.
    An dem Tag, als Miller anordnete, die Suche einzustellen, stieg er selber noch einmal viel weiter auf den Gletscher hinauf als bei der bisherigen Suchaktion und sah sich noch einmal um, bevor er umkehrte und sich mit seiner Mannschaft an den Abstieg vom Gletscher machte. Das Wetter war schön, es war windstill, und die Sonne schien. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos, und so weit das Auge reichte, breitete sich der schneeweiße Gletscher vor seinen Augen aus. Miller war trotz allem fasziniert von dieser wilden Schönheit der Natur. An diese 304

    Stunde dachte er später noch oft, wenn er sich an Island erinnerte.
    Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er an diesem Tag und an diesem Ort genau über seinem Bruder gestanden hatte, der zur gleichen Zeit irgendwo tief unter ihm im Eis in einem Flugzeug eingeschlossen war und an Hunger

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