Gletschergrab
C-17-Transportmaschine der amerikanischen Streitkräfte und überqueren im Augenblick den Atlantik«, sagte Miller in besänftigendem Tonfall. »Von einem alten Mann wie mir haben Sie nichts zu befürchten. Versuchen Sie doch, sich etwas zu beruhigen.«
»Beruhigen Sie sich doch selber, Mann. Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Miller«, sagte er.
»Miller?«, echote Kristín. Sie konnte sich dunkel an den Namen erinnern. »Sind Sie derjenige, von dem Jón geredet hat?«
»Jón?«
»Der Bauer! Jón. Die beiden Brüder am Gletscher! Jón!«
»Genau. Ja, der Miller bin ich. Sie kennen Jón?«
»Er hat uns von Ihnen erzählt. Steve und mir.« Die Stimme wollte ihr versagen, aber sie riss sich zusammen. »Sie waren bei der ersten Expedition dabei, Sie hatten einen Bruder in der Maschine oder so etwas. Sind Sie dieser Miller?«
»Ich habe ihn gesucht, als Sie …«
»Sie suchen Ihren Bruder?«
»Ja.«
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»Ist er in einem dieser Säcke?«
Miller schwieg.
Er hatte keine Ahnung, wer diese Frau war, die aus diesem Leichensack hochgeschossen war, aber ihrem Aussehen und ihrer Verfassung nach musste er sich unter allen Umständen davor hüten, sie noch mehr zu verschrecken. Er musste ihr gut zureden und sie beruhigen. Er wusste nichts über sie, nichts über die albtraumhaften Erlebnisse, die sie durchlitten hatte, über ihre Flucht vor Berufskillern, ihre Suche nach Antworten. Nach einiger Zeit gelang es ihm, Stück für Stück aus ihr herauszulocken, was ihr widerfahren war. Als Kristín klar wurde, dass von dem alten Mann keine Gefahr ausging, dass er ihre Geschichte hören wollte, verstehen wollte, wer sie war und wie in aller Welt es dazu gekommen war, dass sie sich in einem Leichensack in der Junkers versteckt hatte, schienen bei ihr alle Dämme zu brechen. Er hörte ihr zu, während sie von ihrem Bruder erzählte, dem letzten Gespräch, das sie miteinander geführt hatten, dass er über ein Flugzeug und Soldaten gesprochen hatte und später in einer Gletscherspalte aufgefunden worden war und nun zwischen Leben und Tod schwebte, und dass kurz nach diesem Anruf die Mormonen bei ihr geklingelt hatten, die sie umzubringen versuchten, und die hätten über eine Verschwörung geredet; dass sie befürchtete, von der Polizei aufgehalten zu werden, dass sie Antworten zunächst auf der Basis gesucht und Steve um Hilfe gebeten hatte, dass in Reykjavik auf sie geschossen worden war und dass Jón ihnen den Weg auf den Gletscher gezeigt hatte, und sie dort in Ratoffs Klauen gelandet waren, der Steve vor ihren Augen erschossen hatte. Steve war tot. Steve, tot. Ihretwegen. Es war ihre Schuld.
»Warum?«, fragte sie verzweifelt. »Um Gottes willen, warum?«
Miller blickte sie lange an. Sie schien jetzt etwas ruhiger zu sein und saß ihm gegenüber auf der anderen Kiste, die ebenfalls 296
ein Hakenkreuz trug, und er schüttelte den Kopf ob dieser bizarren Situation.
»Dieser Steve, hat er auf dem Stützpunkt gearbeitet?«
»Ja.«
»Und sie haben ihn erschossen?«
»Das war meinetwegen. Das war etwas Persönliches, ganz unbegreiflich. Ratoff hat erklärt, mir eine Erinnerung mitgeben zu wollen, und dann hat er Steve erschossen. Dazu bestand überhaupt kein Anlass, er hat es nur getan, um mich zu quälen.
Steve spielte überhaupt keine Rolle für ihn. Sagen Sie mir doch, was wird hier eigentlich gespielt?«
Miller schaute sie lange an.
»Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen«, sagte er schließlich. »Es bringt Ihnen gar nichts, wenn Sie es erfahren.
Glauben Sie mir. Es hilft Ihnen gar nicht weiter.«
»Aber Sie wissen, um was es hier geht?«
»Zum Teil, ja. Mein Bruder verlor das Leben im Zusammenhang mit einer Operation, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in die Wege geleitet wurde, von der heutzutage niemand mehr etwas wissen will, darf oder sollte. Sie nicht, niemand.«
»Wieso sind Sie sich da so sicher?«
»Glauben Sie mir. Ich werde dafür sorgen, dass Sie heil wieder nach Island zurückkehren. Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts geschieht, aber es ist für alle am besten, Sie inbegriffen, wenn Sie es sich aus dem Kopf schlagen, Antworten auf Ihre Fragen finden zu wollen. Stattdessen sollten Sie versuchen, so schnell wie möglich zu vergessen, was Ihnen widerfahren ist.
Das wird nicht einfach sein, das ist mir klar, aber es ist zum Besten für alle.«
»Auch für Ratoff?«
»Mit Ausnahme von Ratoff. Man braucht manchmal Männer 297
wie ihn, aber man hat sie nie völlig unter
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