Gletschergrab
Kontrolle.«
»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie nach ihm gesucht haben, als ich Ihnen diesen Schreck eingejagt habe. Meinten Sie damit Ihren Bruder? Befindet er sich hier in einem dieser Säcke?«
»Er hat die Maschine geflogen«, sagte Miller wie zu sich selbst. »Er wurde mitten im Krieg ins Feindgebiet geschickt, bis nach Berlin, um diese verfluchte Maschine zu fliegen. Ich habe ihn auf diese Mission geschickt. Wir wollten uns in Reykjavik treffen und gemeinsam über den Atlantik fliegen, bis nach Argentinien. Das Gold in diesen Kisten, auf denen wir sitzen, war als Schmiergeld gedacht, um die Verhandlungen zu erleichtern. Ihnen war noch mehr in Aussicht gestellt worden.
Das ganze Judengold sollte dazu dienen, die Regierung in Buenos Aires zu bestechen.«
Kristín betrachtete den alten Mann eine Weile. Sie tastete sich behutsam vor.
»Was war Napoleon?«, fragte sie vorsichtig. »Wer war Napoleon? Um was ging es bei der Operation Napoleon?«
»Wo haben Sie von Napoleon gehört?«, fragte Miller und konnte sein Erstaunen nicht verhehlen.
»Ich habe Papiere bei Ratoff gesehen«, log Kristín. »Die waren bestimmt aus der alten Maschine. Den Namen habe ich dort gesehen. Ich glaube, die stammten von den Deutschen.«
»Ich weiß nicht alles«, sagte Miller.
»Lassen Sie uns nach Ihrem Bruder suchen«, sagte Kristín, die sich große Mühe gab, sich zurückzuhalten. Am liebsten hätte sie Miller gepackt und geschüttelt, bis er ihr verriet, was er über das Flugzeug, die Deutschen und Napoleon wusste, aber sie spürte, dass sie äußerst taktisch vorgehen musste, um ihm Stück für Stück die Wahrheit zu entlocken. Jetzt, wo sie der Wahrheit so nahe gekommen war, war Ungeduld nicht mehr angebracht.
Trotzdem war die Zeit knapp. Ratoff musste irgendwo in der Nähe sein, und mit ihm womöglich seine Helfershelfer. Sie 298
befand sich in einem Flugzeug auf dem Weg über den Atlantik und hatte nicht die geringste Chance zu entkommen. Der alte Mann kannte des Rätsels Lösung. Sie musste sein Vertrauen gewinnen, ihm vielleicht noch etwas mehr Zeit geben. Er behauptete, sie schützen zu können, aber darauf war kein Verlass.
Miller schaute Kristín an, nickte zustimmend, und sie beugten sich über die Leichensäcke. Im letzten Sack, den sie öffneten, fand Miller seinen Bruder. Kristín zog den Reißverschluss auf, und zum Vorschein kam das Antlitz eines Mannes, der kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein konnte. Sie trat zurück und reichte Miller die Taschenlampe. Er beugte sich über die Leiche seines Bruders und betrachtete forschend sein Gesicht. Nach all diesen Jahren hatte er ihn gefunden.
Kristín beobachtete die Szene und war verwundert, wie gut die Leiche erhalten war. Der Gletscher war sanft mit dem Toten umgegangen, nirgends war auch nur eine Schramme zu sehen.
Aus dem Antlitz war alle Farbe gewichen, und die gespannte Haut erinnerte an durchsichtiges, weißes Papier. Der Mann hatte ein ausdrucksvolles Gesicht mit hoher Stirn, schmalen Augenbrauen und starken Wangenknochen. Die Lider waren geschlossen, und der Friede, der über dem Antlitz lag, erinnerte Kristín an einen Bildband mit Aufnahmen von toten Kindern, den sie besaß. Auf den Fotos wirkten sie wie Porzellanpuppen.
Und auch dieses Gesicht war wie aus Porzellan.
Eine Träne tropfte darauf und prallte an der eiskalten Oberfläche ab.
»Endlich«, flüsterte Miller.
Kristíns Blick wanderte von dem Toten zu Miller.
»Nur dreiundzwanzig Jahre«, sagte Miller.
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Auf einmal fing er an, ihr von sich selbst zu erzählen, und Kristín lauschte. Es waren einige Grad unter null, aber ihr war nicht mehr kalt. Sie nahm die Kälte gar nicht mehr wahr, weil ihr anderes durch den Kopf ging. Sie hatte furchtbare Schmerzen an der Stelle, wo Ratoff ihr den Stechbeitel in die Seite gerammt hatte, aber sie glaubte nicht, dass es sich um eine ernsthafte Verletzung handelte. Die Wunde hatte stark geblutet, aber sie war nicht groß, und die Blutung war inzwischen zum Stillstand gekommen.
Die Brüder hatten sich gleich nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 freiwillig zur Armee gemeldet, konnten aber nicht selbst bestimmen, wo sie eingesetzt wurden.
Er selber wurde dem militärischen Geheimdienst zugewiesen, der seinen Sitz in Washington hatte, aber sein Bruder kam zur Air Force und wurde durch die ganze Welt geschickt. Er war unter anderem in Reykjavik gewesen und hatte Island und Grönland überflogen.
Sie hatten
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