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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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und Kälte starb.
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    41
    Nachdem Miller seine Erzählung beendet hatte, saßen sie noch eine ganze Weile da, ohne etwas zu sagen. Das ständige Geräusch der Triebwerke schien beruhigend auf Kristín zu wirken, und ihre verkrampften Muskeln lockerten sich allmählich. Sie betrachtete die Brüder, die nach all diesen Jahren wieder vereint waren, der eine noch so jung, der andere gezeichnet von Leben, Kampf und Alter.
    »Es ging Ihnen bei Ihrer Suche also genauso sehr um Ihren Bruder wie um Napoleon?«, fragte Kristín schließlich und tastete sich weiter vor. Sie wollte Miller zum Weiterreden bringen. Sie musste erfahren, was an dieser Maschine so wichtig war, sie musste ihn glauben machen, dass sie mehr wusste, als er ahnte. Miller blickte von seinem Bruder hoch und schaute Kristín geraume Zeit an. Schließlich schien er eine Entscheidung getroffen zu haben.
    »Napoleon war nicht an Bord der Maschine«, setzte er im gleichen ruhigen Ton fort, und Kristíns Gesicht verriet gespannte Erwartung.
    »Wo war er denn?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Miller und schaute wieder auf seinen Bruder. »Und ich weiß nicht, wo er gelandet ist. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich noch irgendjemand daran erinnert.«
    Miller schwieg eine Weile, und Kristín wartete ab.
    »Du musst verstehen, dass nur ein sehr begrenzter Kreis innerhalb des Militärs etwas von der Napoleonakte gewusst hat«, sagte Miller schließlich. »Ich kannte beispielsweise den Text überhaupt nicht, wusste nie genau, was da drinstand, denn ich kannte den Inhalt nur vom Hörensagen. Ich war bloß ein 306

    kleines Rädchen im Getriebe, ein Laufbursche, den man losschickte, um gewisse Aufgaben wahrzunehmen. Genau wie mein Bruder.«
    Wieder schwieg Miller eine Weile.
    »Ich glaube, dass eine Gruppe von Oberbefehlshabern in Europa, amerikanische Generäle, die Operation in die Wege geleitet hat. Ich weiß nicht, wann und wo die Idee aufkam, oder wer die Initiative ergriffen hatte, aber man trat in Verhandlungen mit den Deutschen ein. Von dem Zeitpunkt an, wo feststand, dass die Deutschen den Krieg verlieren würden, war darüber spekuliert worden, wie es weitergehen würde. Wie Europa zwischen den Russen und den Alliierten in militärische Zonen aufzuteilen sei. Als das Kriegsende näher rückte und die Russen ganz Osteuropa okkupierten, hat man allen Ernstes darüber diskutiert, ob man nicht eine Offensive in Richtung Osten eröffnen und das vollenden sollte, was die Deutschen nicht geschafft hatten. Viele waren der Ansicht, dass ein Einmarsch in Russland unumgänglich sei und dass man Waffenstillstand mit den Deutschen schließen musste, um gemeinsam gegen die Rote Armee vorzugehen. General Patton hat als Einziger öffentlich darüber geredet, aber niemand hat ihn ernst genommen. Die Leute hatten genug vom Krieg, alle wollte Frieden. Verständlicherweise.«
    Wieder machte Miller eine Pause.
    »Aber was soll denn das?«, fragte Kristín ungeduldig.
    »Alle wissen doch von diesen Ideen. Ich kenne sie, die englischen Zeitungen haben erst kürzlich darüber geschrieben, dass Churchill Pläne für einen Einmarsch in Russland in petto hatte, gleich nach dem deutschen Zusammenbruch.«
    »›Operation Unthinkable‹, so wurde sie genannt«, sagte Miller.
    »Genau. Und das ist doch schon längst in der Öffentlichkeit bekannt. Das kann doch wohl kaum das Geheimnis sein, das 307

    diese Junkers in sich trug und dessentwegen Menschen bereit sind, zu foltern und zu töten. Das ist Schnee von gestern.«
    »Im Lichte der Geschichte betrachtet, ist das die große Frage«, sagte Miller. »Die Aufteilung Europas. Der Kalte Krieg. Das atomare Wettrüsten. Der Vietnamkrieg. Hätten wir das alles vermeiden können? Wir haben die Japaner besiegt. Heute sind sie eine wirtschaftliche Großmacht. Wäre dasselbe in Russland passiert?«
    Jetzt hat er angefangen zu spinnen, dachte Kristín.

    Vytautas Carr saß vorn in der Maschine, und wegen des Triebwerklärms drangen Ratoffs Schreie nicht mehr an seine Ohren. Er wusste, dass Ratoff kapituliert hatte. Das taten sie alle, auch skrupellose, eiskalte Kerle wie Ratoff. Es dauerte nur etwas länger. Er wusste nicht, was sie mit ihm gemacht hatten.
    Wollte es nicht wissen, wollte nicht die Details wissen. Sie waren in Zeitnot, und Ratoff konnte keine Gnade erwarten. Es war völlig zwecklos, sich zu widersetzen. Niemand wusste das besser als Ratoff selbst.
    Carr schaute in die nächtliche Finsternis hinaus. Wenn das hier

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