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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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wollte.
    »Wo ist Napoleon hingebracht worden?«
    »Ich weiß es nicht. Das ist die Wahrheit, ich weiß es nicht.«
    »Aber er wurde auf einer Insel ausgesetzt?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was für eine Insel?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Vor was haben Sie Angst, Miller?«
    Bevor er antworten konnte, erlosch die Taschenlampe, und pechschwarze Finsternis hüllte sie ein. Im gleichen Augenblick gesellte sich ein neues Geräusch zum Dröhnen der Triebwerke.
    Das Heck öffnete sich langsam, und die Laderampe wurde heruntergelassen.
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    42
    Sie warteten ab und lauschten. Dieses Geräusch kannten sie nicht. Kristín tastete nach Miller, fand ihn und sagte, dass sie nachsehen wollte, was los war. Sie kroch zu dem Loch, das Miller in die Plane geschnitten hatte, und streckte vorsichtig den Kopf heraus. Sie sah, wie sich die große Laderampe, die das Heck verschloss, langsam absenkte und die Maschine sich hinten öffnete. Die Nacht war mondhell, und in dem blauweißen Licht sah sie einige Männer, die bei der Hecköffnung standen.
    Sie zwängte sich durch das Loch und ließ sich auf den Boden des Frachtraums gleiten, wo sie sich an der Wand entlang bis zu den drei Männern vorpirschte. Bei dem Lärm bestand keine Chance, irgendetwas von dem zu verstehen, was sie sagten. Ein frostiger Wind blies durch die Öffnung hinein, und das Dröhnen der Triebwerke wurde umso stärker, je größer die Öffnung wurde. Sie schlich sich an der linken Seite des Laderaums entlang, bis sie die Laderampe fast erreicht hatte, und achtete darauf, im Schutz der Dunkelheit zu bleiben. Die Männer standen ganz in ihrer Nähe, sodass sie ihre Gesichter erkennen konnte, aber sie war sich sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben.
    Auf jeden Fall waren weder Simon noch Ratoff dabei. Sie hielt sicheren Abstand. Als sie schon überlegte, wieder zu Miller zurückzukehren, sah sie aus den dunklen Tiefen des Laderaums das Brett anrollen.
    Auf dem Boden des Laderaums befanden sich mehrere Fließbänder aus Stahlwalzen, und auf einem von ihnen steuerte das Brett auf die Öffnung zu. Als es näher kam, sah sie, dass Ratoff wie ein Gekreuzigter mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Beinen auf dem Rücken liegend darauf festgebunden war. Er starrte auf die Hecköffnung, auf die er langsam und stetig zuglitt. Sein Oberkörper schien nackt zu sein.
    315

    Er war über und über blutig, und die Schnitte in seinem Gesicht stammten offenbar von einem Messer. Der Tod näherte sich im Schneckentempo. Mit aller Kraft zerrte er an den Stricken, die ihn an das Brett fesselten, und bäumte sich auf. Wegen des Flugzeuglärms konnte sie seine Angstschreie nicht hören.
    Die drei Männer im Heck schenkten ihm keinerlei Beachtung, für sie schien Ratoff gar nicht vorhanden zu sein. Kristín sah, wie sie sich in den Schutz des Frachtraums zurückzogen, als sich die Heckrampe vollständig öffnete. Kristín beobachtete, wie Ratoff dem sicheren Tod entgegenging, und erneut flammte der Hass in ihr auf. Sie spürte den Schmerz in ihrer Seite, und sie sah im Geiste vor sich, wie Elías ihn um Gnade bat und wie Steve nach dem Kopfschuss zusammenbrach.
    Sie richtete sich auf, als Ratoff sich näherte, vergaß alles um sich herum, trat aus ihrem Versteck heraus und ging auf das Brett zu. Eiskalter Wind blies ihr entgegen, aber sie trat ohne das geringste Zögern an Ratoff heran und beobachtete, wie er sich drehte und wand, um loszukommen. Sie stellte fest, dass Finger an seinen Händen fehlten, und auf der Brust sah sie ein Stück rohes Fleisch. Sie verspürte kein Mitleid.
    Ratoff stierte in Todesangst auf die Öffnung, die sich langsam näherte, als Kristín zu ihm trat. Er schien ihre Nähe zu spüren, starrte zu ihr hinüber, und sein Gesicht verzog sich fratzenartig.
    Er wollte seinen Augen nicht trauen. Dann zuckte er zusammen und brüllte vor Schmerz laut auf. Er fing an zu husten und bekam einen Lachkrampf, der ihn am ganzen Körper schüttelte.
    »Carr hintergeht man nicht«, stieß Ratoff zwischen blutigen Lippen hervor.
    Kristín schwieg. Das Brett glitt quietschend vorwärts, und sie folgte ihm.
    »Ich muss … Heißt du nicht Kristín? Ich muss sagen, du bist
    …«
    Kristín hörte das Ende des Satzes nicht. Der Lärm war 316

    ohrenbetäubend, und Ratoff schrie wieder vor Schmerz, als er noch einen letzten Versuch machte, sich zu befreien.
    »Hilf mir!«, rief er zu ihr hinauf. »Um Himmels willen, Kristín, befrei mich! Kristín! Kristín!«
    Sie sah auf ihn

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