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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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alles wie am Schnürchen. Bis auf die Tatsache, dass zwei Leute sie am Flugzeug überrascht haben.
    Isländer. Zwei Männer. Sie befürchten, dass die beiden zu viel gesehen haben. Ratoff meint, er hat die Sache im Griff.«
    »Er wird ihnen gegenüber keine Gnade walten lassen.«
    »Deswegen brauchen wir einen Mann wie Ratoff.«
    »Und der Bauer?«
    Carr zuckte mit den Schultern.
    Miller schloss die Augen. Er sah die Brüder vor sich, wie er ihnen das erste Mal vor vielen Jahrzehnten am Fuß des Gletschers begegnet war. Nett und gastfreundlich, kooperativ und, was am wichtigsten war, verschwiegen. Sie hatten ihm niemals unnötige Fragen gestellt, sondern ihn einfach in ihr Haus aufgenommen und auf den Gletscher geführt. Die beiden waren ungefähr in seinem Alter gewesen.
    »Ratoff weiß nicht, was in der Maschine ist?«, fragte er.
    »Er wird bald dahinter kommen. Ich bin sicher, dass wir ihm trauen können, zumindest wird er uns wohl die Dokumente übergeben. Wir haben Lastwagen vor Ort, die das Flugzeug in Einzelteilen zur Basis in Keflavík transportieren werden.
    Anschließend sollen die Leichen abtransportiert werden. Ich habe Ratoff Anweisung gegeben, was er mit den Akten tun soll, wenn er sie findet. Er wird sie sicherlich lesen, aber ich bezweifle, dass er sie gegen uns verwenden wird. Er hat keine 102

    Chance, aus diesem gottverlassenen Winkel zu entkommen.
    Wenn alles nach Wunsch geht, wird dieses Kapitel des Kalten Krieges in wenigen Tagen abgeschlossen sein, und wir können wieder aufatmen. Die können wieder aufatmen.«
    »Was wird aus Ratoff?«
    »Das bleibt erst mal offen.«
    »Wenn er die Akten liest, wird er merken, dass er in Gefahr ist.«
    »Wir werden sehen, wie er darauf reagiert. Ratoff ist kein besonders komplexer Mensch.«
    Miller nippte am Cognac.
    »Wissen die anderen über die Situation Bescheid?«
    »Die wenigen, die noch übrig sind.«
    »Und die Politikusse?«
    »Ich glaube, dass ich sie in die Deckung zurücktreiben konnte.
    Ich habe die Geschichte vom Walchenseegold genommen.
    Dieser aufgeblasene kleine Furz von Demokrat hätte sich fast die Hosen voll gemacht, als ich ihm davon erzählt habe. Es reicht, einmal die Juden zu erwähnen, und schon fangen sie an zu zittern.«
    »Aber irgendetwas stimmt nicht.«
    »Eine junge Frau in Reykjavik. Einer der beiden Männer, die Ratoff auf dem Gletscher in die Quere gekommen sind, hat mit seinem Handy seine Schwester noch benachrichtigen können, dass sich bewaffnete Soldaten und ein Flugzeug auf dem Gletscher befinden. Ratoff hat das aus ihm herausbekommen.
    Sie ist unseren Leuten schon zweimal entwischt und hat bei einem von den Zivilangestellten auf der Basis Hilfe gesucht. Sie hat sich bestimmt an ihn gewendet, weil der Bruder ihr von unseren Soldaten erzählt hat. Das ist ein früherer Liebhaber von ihr oder so etwas Ähnliches. Sie sind noch auf der Basis. Man hat mir gesagt, dass man den Stützpunkt sorgfältig abgeriegelt 103

    hat. Der Befehlshaber der Basis ist auf unserer Seite. Sie werden nicht weit kommen.«
    Sie schwiegen eine Weile.
    »Das waren seinerzeit strategische Erwägungen der Militärs«, sagte Miller schließlich. »Wir machen für die Politikusse den Dreck weg. Haben immer für sie den Dreck wegmachen müssen.«
    »Das ist mir klar. Trotzdem meine ich, dass es sich eher um einen Augenblick geistiger Verwirrtheit gehandelt hat. Am Ende des Krieges sind Dinge vorgefallen, die sich kein Krimiautor ausdenken könnte.«
    »Trotzdem hätten wir weiter vorstoßen sollen. Patton hat Recht gehabt.«
    »Sie haben gezögert.«
    »Und wir haben die Hälfte von Europa verloren.«
    Miller goss Cognac nach. Das gehörte zu den wenigen Annehmlichkeiten, die er sich noch erlaubte. Die Ärzte hatten ihm gesagt, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Das war ihm gleichgültig. Er hatte sich bereits seit langem mit dem Tod arrangiert und würde ihn mit offenen Armen empfangen, wenn es so weit war.
    »Es ist nicht unsere Aufgabe, Geschichte zu schreiben«, sagte er.
    »Nein, unsere Aufgabe ist es, sie wieder auszuradieren und umzuschreiben«, gab Carr zurück. »Es gibt heutzutage nichts mehr, was man historische Wahrheit nennen könnte. Wir haben so viel geheim gehalten, so viel gelogen, so viel erfunden, die Wahrheit über die Lüge erzählt und über die Wahrheit gelogen.
    Einen Teil herausgenommen und einen anderen an seine Stelle gesetzt. Das ist unsere Aufgabe. Irgendjemand hat einmal gesagt, dass die Menschheitsgeschichte nur eine

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