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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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allein und hatte eine Scheidung hinter sich.
    93

    Bevor er nach Island kam, hatte er sich von seiner amerikanischen Ehefrau getrennt. Er war fünfunddreißig, ein paar Jahre älter als Kristín, irischer Abstammung, hatte einen dunklen Teint und eine wilde schwarze Mähne. Er war ungefähr genauso groß wie sie, dünn, aber kräftig. Er hatte ein freundliches Gesicht, lachte viel, und Kristín fand ihn sehr unterhaltsam. Sie waren sich bei irgendeinem offiziellen Anlass begegnet. Eins ergab das andere, und irgendwann lud Steve sie zum Essen ein.
    Die ersten beiden Male trafen sie sich in einem Restaurant in Reykjavik. Er erzählte ihr von sich und seiner Familie. Er arbeitete als Politikwissenschaftler für das amerikanische Verteidigungsministerium. Seit Generationen hatte seine Familie nur Geschäftsleute hervorgebracht. Am Business hatte er aber nicht das geringste Interesse, seine Leidenschaft galt dem Reisen. Als ihm eine Stelle in Island angeboten wurde, brauchte er nicht lange zu überlegen.
    Bei ihrer dritten Verabredung lud er sie in den Offiziersklub auf der Basis ein und danach zu sich nach Hause. Er war keineswegs aufdringlich gewesen, als sie in seine Wohnung kamen, aber Kristín ging das alles viel zu schnell. Plötzlich konnte sie sich nicht vorstellen, mit einem Amerikaner von der Basis in einem Bett zu liegen. Die Erinnerungen an all diese Geschichten von isländischen Frauen, die den amerikanischen Soldaten nachliefen. Amiflittchen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, und als sie versuchte, ihm zu erklären, was los war, war er verletzt. Sie war dann nach Hause gefahren. Danach wurde ihre Verbindung immer sporadischer, bis sie schließlich ganz einschlief. Sie hatten mehr als ein Jahr keinen Kontakt mehr miteinander gehabt, sich aber auch nie richtig ausgesprochen.
    »Wie wäre es, jetzt erst einmal die Rettungsgesellschaft anzurufen?«, sagte er in beruhigendem Tonfall. »Und etwas über deinen Bruder in Erfahrung zu bringen.«
    94

    »Vorhin habe ich dort niemanden erreichen können.«
    Er stand auf, suchte die Nummer im Telefonbuch und wählte.
    Niemand nahm ab. Er versuchte es mit einer anderen Nummer, aber auch dort ging niemand ans Telefon. Er wählte eine dritte Nummer und winkte sie ans Telefon. Endlich hatte er jemanden in der Leitung. Sie sprang auf.
    »Mein Name ist Kristín«, sagte sie, »spreche ich mit der Bergnotrettungsgesellschaft in Reykjavik?«
    »Ja.«
    »Wie kann man die Rettungsmannschaft auf dem Vatnajökull erreichen?«
    »Wir haben ein paar Handynummern und Funkgeräte. Worum geht es denn?«
    »Hat es auf dem Gletscher einen Unfall gegeben? Wird jemand vermisst?«
    »Mit wem spreche ich?«
    »Mit Kristín. Mein Bruder ist in der Rettungsmannschaft. Er heißt Elías.«
    »Ich werde versuchen, dich zum Leiter der Rettungsmannschaft durchzustellen. Einen Augenblick bitte.«
    Kristín wartete am Telefon. Sie betrachtete Steve, der unruhig durch die kleine Wohnung tigerte. Betrachtete James Dean im Regen in New York. Betrachtete das Gesicht der Revolution.
    »Ja«, ertönte es plötzlich aus dem Hörer. »Spreche ich mit Kristín? Júlíus hier. Ich leite die Übung hier auf dem Vatnajökull. Kannst du mich verstehen?«
    »Ich kann dich gut verstehen«, sagte Kristín schnell. »Ist Elías bei dir? Ist mit Elías alles in Ordnung?«
    »Elías ist vermisst.«
    »Vermisst? Ist er vermisst? Was heißt das? Wo ist er?«
    »Er ist vor rund sieben Stunden zusammen mit Jóhann von 95

    unserem Camp weggefahren und noch nicht wieder zurück. Wir haben ein Signal von Elías’ Handy und gehen davon aus, dass wir sie finden, sobald es hell wird. Vielleicht haben sie sich verirrt. Es ist inzwischen stockdunkel. Wir können nicht ausschließen, dass die beiden einen Unfall hatten. Aber Elías ist ein hervorragender Bergsteiger, und es besteht gar kein Grund zu übertriebener Sorge.«
    »Habt ihr irgendwelche Soldaten in eurer Umgebung bemerkt?«, fragte Kristín.
    »Soldaten? Nein. Was meinst du damit, Soldaten?«
    »Elías hat mich vom Gletscher aus angerufen, und da kamen ihm Soldaten entgegen.«
    »Wann hat Elías dich angerufen?«
    »Vor etwa drei bis vier Stunden. Die Verbindung riss ab, nachdem er die Soldaten gesehen hatte.«
    »Wir haben niemanden auf dem Gletscher bemerkt. Die Jungs wollten unsere neuen Motorschlitten ausprobieren und sind auf den Maschinen bestimmt ein ganzes Stück weit gekommen, aber hier ist niemand außer uns.«
    »Haben sie nicht gesagt, wohin sie

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