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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Ratoff kannte den Rang nicht. Er trug einen eisernes Kreuz um den Hals. Man hatte ihm die Arme über der Brust gekreuzt, und eine Uniformmütze verdeckte sein Antlitz. Der Leiche fehlte ein Bein. Es sah aus, als sei es direkt an der Hüfte abgerissen, und in der offenen Wunde sahen die Männer das 110

    weiße Hüftgelenk schimmern. Das fehlende Bein war nirgends zu erblicken. Ratoff beugte sich über die Leiche und wollte die Mütze hochheben, um das Antlitz des Toten zu sehen, musste aber feststellen, dass sie am Gesicht festgefroren war.
    Er richtete sich wieder auf und befahl seinen Männern, die Leiche aus dem Eis zu lösen und zum Kommunikationszelt zu bringen. Er grübelte darüber nach, wie lange die Männer nach der Bruchlandung noch gelebt haben mochten. Der Absturz hatte sich ungefähr zur gleichen Jahreszeit wie jetzt ereignet.
    Ratoff und seine Männer waren mit spezieller Polarkleidung ausgestattet, trotzdem spürten sie die beißende Kälte.
    Gaslampen dienten ihnen als Wärmequelle, und sie hatten spezielle Survival-Trainings in großer Kälte mitgemacht. Die Passagiere des Flugzeugs waren der Kälte des Gletschers offenbar völlig schutzlos ausgeliefert gewesen. Die Überlebenden mussten auf dem Gletscher langsam erfroren sein.
    Das konnte höchstens einige Tage gedauert haben.

    Acht Männer der Reykjaviker Bergnotrettungsgesellschaft starrten in die Tiefe. Das Display des Handys leuchtete immer noch im Schnee am Rand der Gletscherspalte, und sein leises Piepen durchbrach die morgendliche Stille. Kurz vor Anbruch des Tages waren sie aufgebrochen und hatten die Spur der Motorschlitten gefunden. Zwei Kilometer vom Camp der Bergnotrettung entfernt zweigte sie nach Westen ab und führte direkt auf das Gebiet mit den Gletscherspalten zu. Zur gleichen Zeit war es ihnen im Basiscamp gelungen, das Handy zu orten.
    Der Rest war ein Kinderspiel. Es schien, als seien die beiden Motorschlitten mit voller Fahrt in die Spalte gestürzt. Elías und Jóhann schienen sie nicht bemerkt zu haben, bis sie plötzlich über den Rand in die Tiefe gestürzt waren.
    Die Männer der Rettungswacht hatten Seile dabei, an denen sich einer von ihnen in die Spalte hinabließ. Nach rund acht Metern fand er seine beiden Kameraden. Sie waren schlimm 111

    zugerichtet. Die beiden Männer schienen heftig gegen die Wände der Gletscherspalte geprallt zu sein, dann waren die Motorschlitten auf sie gestürzt. Sie waren fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Rettungssanitäter war noch nie mit einem vergleichbaren Unfall konfrontiert gewesen. Er drehte sich zur Seite und musste sich übergeben.
    Sie begannen damit, die Motorschlitten nach oben zu ziehen.
    Dann ließen sie die Bahren hinunter und legten Elías und Jóhann darauf. Sie wurden im Heck des Kettenfahrzeugs der Rettungswacht untergebracht. Ein eiskalter Nordostwind mit Schneetreiben war aufgekommen, der wie Rasierklingen in Gesicht und Hände schnitt und bald alle Spuren an der Gletscherspalte verhüllte.
    Júlíus, der Leiter der Übung, stand niedergedrückt an der Spalte und verfolgte die Bergung. Er spürte die Kälte nicht. Er hatte zwei junge Männer verloren, für die er die Verantwortung trug, zwei junge Männer, denen er erlaubt hatte, sich vom Camp zu entfernen, um die neuen Motorschlitten zu testen. Er hätte damit rechnen müssen, dass sie sich austoben und das Zeitgefühl verlieren würden, dass sie sich in Schwierigkeiten bringen könnten. Aber so etwas hatte er sich nicht ausmalen können.
    Am Kettenfahrzeug rief man nach ihm. Einer der Männer namens Heimir, der Medizin studierte, hatte zwei Finger auf Elías Halsschlagader gelegt. Júlíus wartete voller Ungeduld.
    »Es ist noch ein schwacher Puls zu spüren«, sagte Heimir.
    »Lebt Elías noch?«
    »Sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Ich bezweifle, dass er noch lange durchhält.«
    »Können wir ihn hier versorgen, oder müssen wir mit ihm ins Camp fahren und den Hubschrauber dorthin rufen?«
    »Wie ich gesagt habe, er kann jeden Moment sterben. Es ist vielleicht am besten, ihn nicht weiter zu transportieren. Ihn hier zu versorgen, so gut wir können, und den Hubschrauber hierher 112

    zu beordern. Wie lange dauert das?«
    »Das dürfte nicht lange dauern«, sagte der Leiter und schaltete sein Funkgerät ein. »Ich meine trotzdem, dass wir ihn von hier fortbringen müssen, bevor der Sturm uns erwischt. Das Unwetter kann jeden Moment hereinbrechen, dann ist es wohl besser, wenn wir bis dahin wieder

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