Gletschergrab
Kette von Verbrechen und Katastrophen sei, aber sie ist auch eine Kette 104
sorgfältig arrangierter Lügen.«
»Das klingt, als seist du müde geworden.«
»Ich bin müde. Ich werde bald aufhören. Wenn das hier vorbei ist.«
»Die beiden Brüder haben mir berichtet, dass der Winter 1945
außergewöhnlich hart gewesen ist«, fuhr Miller fort. »Der letzte Schnee ist erst im Juli von den Hängen oberhalb des Hofs verschwunden. Damals habe ich mit einer Hand voll Männer das Gebiet abgesucht, aber wir haben nicht den geringsten Hinweis auf das Flugzeug gefunden. Das Flugzeug muss unter dem Eis relativ unversehrt sein, vermutlich genauso wie die Insassen. Sie haben einfach ein gutes halbes Jahrhundert auf Eis gelegen.«
Miller schwieg.
»Ich beneide Ratoff, diesen verdammten Hund. Mein ganzes Leben lang habe ich nach diesem Flugzeug gesucht, und jetzt, wo es endlich gefunden ist, bin ich ein altes Wrack und zu nichts mehr nütze. Wann wird es in Argentinien ankommen?«
»Ratoff spricht von vier Tagen. Das steht aber noch nicht fest.
Die Wetterprognose für die Region ist ungünstig. Wir erwarten einen Sturm innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden.
Du kannst nach Südamerika kommen, wenn du dir das zutraust.«
»Ich habe oft im Stillen gedacht, ob es nicht das Beste für uns wäre, wenn der Gletscher das Flugzeug für immer und ewig behalten würde. Dann bräuchten wir uns deshalb keine Sorgen mehr zu machen. Das wäre für uns alle am besten.«
»Wahrscheinlich. Manchmal glaube ich, dass dieses verdammte Flugzeug der einzige Grund für die Stationierung unserer Truppen in Island gewesen ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es so wichtig ist.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Diese Schwester? Können wir es nicht einfach dabei 105
bewenden lassen?«, fragte Miller.
»Nicht, solange unser Flugzeug noch am Boden ist. Danach spielt es keine Rolle mehr, ob wir sie erwischen oder nicht.«
»Sie braucht also nur ein paar Tage stillzuhalten, dann kommt sie ungeschoren davon?«
»So ungefähr.«
Miller nippte am Cognac.
»Wer weiß von diesem Fund?«, fragte er.
»Wir beide. Der Verteidigungsminister, der glaubt, es gehe um Judengold. Ein paar der höchsten Befehlshaber der Militärgeheimdienste. Die anderen liegen schon unter der Erde.
Das ist eine alte Geschichte, und außer uns gibt es kaum jemanden, der weiß, was wirklich in der Maschine verborgen ist.«
»Und bald liegen auch wir unter der Erde.«
»Die Neuen, die jungen Leute, haben kein Gespür mehr dafür.
Sie sind zu jung, um zu verstehen, warum die Angelegenheit geheim gehalten werden muss. Es ist ihnen vielleicht sogar egal, ob etwas über das Flugzeug an die Öffentlichkeit gelangt.
Versuchen vielleicht sogar, Kapital aus der Sache zu schlagen und sie für sich auszuschlachten, diese Radikalen. Wir müssen es schnell zu Ende bringen. Je länger die Operation dauert, desto größer ist die Gefahr, dass etwas nach außen dringt.«
»Wenn du von Radikalen sprichst …«
»Ich weiß nicht, was sie tun würden, wenn sie von der Bestimmung des Flugzeugs erfahren würden.«
Miller wechselte plötzlich das Thema. Die Zeit drängte.
»Ich habe die Isländer ein bisschen kennen gelernt, als ich gegen Kriegsende in Island war. Ein äußerst mysteriöses Völkchen. Wohnt in diesem hintersten Winkel Europas mitten im Atlantik. Die meiste Zeit des Jahres herrscht dort Dunkelheit, und die Menschen haben sich jahrhundertelang in der Erde 106
vergraben, in solchen Torfhütten, weil Torf und Steine das einzige Baumaterial waren. Als ich dort war, waren die Menschen eben erst aus der Erde hervorgekrochen und hatten angefangen, sich normale Häuser zu bauen. Aber auf der anderen Seite waren sie ausgesprochene Weltbürger. Wie die beiden Brüder am Fuß des Gletschers zum Beispiel. Sie hatten Milton in isländischer Übersetzung gelesen. Kannten jedes Wort. Hatten ihn vollständig im Kopf. Eine merkwürdige Nation.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Es gibt nicht genug Isländer in der Welt. Wir sollten sie nicht unnötig weiter dezimieren.«
»Das werden wir nicht tun.«
»Wenn ich es nicht nach Argentinien schaffe, wirst du ihn dann zu mir nach Hause schicken?«
»Soweit ich weiß, hat sich seit unserer letzten Besprechung nichts an unserem Plan geändert. Er soll bei dir seine letzte Ruhe finden.«
»Ich muss immer an den Frost denken. Wenn er bei dem Unfall nicht schwer verletzt worden ist, wird er aussehen wie vor einem halben
Weitere Kostenlose Bücher