Gletschergrab
habe sie in einer kleinen Schlucht gefunden, nicht mehr als fünf Kilometer östlich von hier«, sagte er langsam und sah sie an. »Ich habe ihn da an Ort und Stelle begraben, das Wenige, was noch von ihm übrig war, und ein kleines Kreuz aufgestellt.
Bin davon ausgegangen, dass er zu denen gehörte. Die Jacke habe ich zur Erinnerung mitgenommen. Außer euch habe ich niemandem davon erzählt. Der Ärmste, von ihm waren nur noch die Knochen übrig.«
»Zur Erinnerung?«
»Der Zweite Weltkrieg ist so was wie ein Hobby von mir. Und auch von meinem Bruder, bevor er starb.«
»Was hast du gesagt, wie lang ist das her?«, fragte Kristín,
»Ungefähr zwanzig Jahre.«
»Moment mal, dann hat er also mehr als dreißig Jahre sozusagen direkt vor deiner Haustür gelegen?«
»Wohl kaum direkt vor der Haustür, nein, nein. Ganz und gar nicht. Die Stelle ist ein gutes Stück von hier entfernt, und er lag ziemlich versteckt zwischen großen Felsbrocken.«
»Warum hast du diesen Fund nicht gemeldet?«
»Das ging niemanden etwas an. Die letzte große Suchaktion lag zehn Jahre zurück, und seitdem haben sie sich kaum noch hier blicken lassen. Mir würde es nie einfallen, von mir aus mit so hoch gestellten Persönlichkeiten Kontakt aufzunehmen.«
»Aber warum hast du diese Uniformjacke an dich genommen?
206
Warum hast du sie nicht auch vergraben?«
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht wollte ich ein Erinnerungsstück besitzen. Wie gesagt, ich interessiere mich sehr für diesen Krieg und alles, was damit zusammenhängt. Ich kann mich ganz genau daran erinnern, wie diese Maschine über uns hinwegflog. Karl und ich haben viel darüber geredet. Von hier aus ist es ziemlich einfach, auf den Gletscher hinaufzukommen; für jemanden, der sich auskennt, ist das kaum mehr als ein steiler Hang. Aber man muss sich vor den Gletscherspalten in Acht nehmen. Wir sind oft auf den Gletscher hinauf und haben nach der Maschine gesucht, sie aber nie gefunden. So ist der Gletscher, er verschluckt alles, was er bekommt.«
»Und spuckt es hundert Jahre später wieder aus.«
»Genau.«
Kristín konnte sich nicht vorstellen, was ein deutsches Flugzeug hier so hoch im Norden zu suchen gehabt hatte. Jón erzählte ihr, dass im Zweiten Weltkrieg nicht selten deutsche Flugzeuge im Südosten Islands gesichtet worden waren. Sie kamen vom Flughafen Sola bei Stavanger. Man hatte sie mit größeren Benzintanks ausgestattet, denn der Flug über den Atlantik hin und zurück dauerte über elf Stunden. Die Temperatur in den Pilotenkanzeln konnte auf minus dreißig Grad und mehr heruntergehen. Jón glaubte sich zu erinnern, dass es Flugzeuge vom Typ Junkers Ju 880 gewesen waren. Meistens waren es Spionageflüge, aber manchmal hatten die Deutschen auch Angriffe geflogen. Er konnte sich an einen Heinkel He 111
Bomber erinnern, der 1941 das Feuer auf ein britisches Camp bei Selfoss eröffnete, wobei eine Person ums Leben kam.
Deutsche Maschinen wurden auch manchmal über dem Hornafjörður gesichtet, sie flogen an den Bergen entlang und verschwanden bei Eystrahorn. Ein Focke Wulf 200 Bomber flog einen Angriff auf die britische Radarstation bei Höfn. Deswegen war es für Jón keineswegs überraschend, dass eine deutsche 207
Maschine auf dem Gletscher verunglückt war, nur der Zeitpunkt war verwunderlich. So kurz vor Ende des Krieges konnte sie auf gar keinen Fall aus Norwegen gekommen sein, sondern nur aus Deutschland.
Jón erzählte Kristín auch von einer amerikanischen Militärmaschine, die im Zweiten Weltkrieg über dem Eyjafjallajökull abgestürzt war, aber darüber war nur wenig bekannt geworden, weil eine militärische Nachrichtensperre verhängt worden war. Diese Bruchlandung hatten alle Insassen überlebt und es geschafft, vom Gletscher herunterzukommen und bewohnte Gebiete zu erreichen.
»Daran haben Karl und ich gedacht, als Miller zuerst zu uns kam, und wir waren bereit, alles Erdenkliche für ihn zu tun.
Vielleicht ist unsere treue Unterstützung etwas übertrieben gewesen, aber wir hatten ein Versprechen gegeben und uns daran gehalten. Wir haben unser Versprechen gehalten, mehr nicht.«
Sie standen eine Weile schweigend da.
»Bei dem Deutschen lag eine Tasche, die war schon halb in der Erde verschwunden. Es sah so aus, als wäre sie an ihn gekettet gewesen, am Handgelenk. Mit der ist er vom Gletscher heruntergekraxelt.«
»Eine Tasche!«, rief Kristín.
»Eine Tasche, ja, oder so etwas Ähnliches. Die muss hier auch irgendwo
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