Gletscherkalt - Alpen-Krimi
bewunderte sie: Marielle war es schließlich, die zu dem Toten in die
Spalte hinunter war. Er konnte verstehen, dass sie nichts aß, dass sie nur
durch alle, auch durch ihn, hindurchsah. Sie schien mit ihren Gedanken weit,
weit weg zu sein: auf keinem Gletscher, in keinem Gebirge, nicht hier bei ihnen
auf der Kasseler Hütte.
Gern hätte er sie getröstet, hätte etwas Nettes gesagt, hätte
versucht, ihr wenigstens ein Lächeln abzugewinnen. Aber sie war unerreichbar:
ein paar Jahre älter als er, und außerdem hatte sie ja einen Freund, Pablo. Und
der war ständig in ihrer Nähe, auch jetzt. Legte wortlos seinen Arm um ihre
Schultern, war einfach da, ohne zu reden, weil er sie natürlich gut genug
kannte und wusste, dass reden jetzt eh keinen Sinn gemacht hätte.
Hosp ließ sich noch einen Kaffee bringen. Sein Handy lag mit dem
Display nach oben auf dem Tisch. Er wartete. Wartete auf Nachrichten von Wasle.
Auf gute Nachrichten.
Gnade uns Gott, wenn es schlechte sind, dachte er.
Neben dem Handy lag ein Notizblock, auf dem er die Aussagen von
Marielle, Pablo und Michael festgehalten hatte sowie den Erstbericht der
Helikopterbesatzung, die Tinhofers Leichnam abtransportiert hatte.
Er selbst hatte sich unmittelbar vor Ort alles ansehen können – ein
seltsames Gefühl für einen Nichtbergsteiger, plötzlich auf so einem Gletscher
zu stehen, am Seil und gesichert – und dennoch: So viel verstand auch er vom
Gebirge, dass er wusste, wie gefährlich Gletscher sein konnten.
Heilfroh war er, wirklich heilfroh, wieder auf einem Boden zu
stehen, der fest war, der nicht einfach so unter ihm nachgeben würde. Einen
Moment lang musste er an Schwarzenbacher denken: was das für ein Gefühl wäre,
im Rollstuhl zu hocken und den Boden gleichsam mit dem Arsch zu spüren …
Der Obmann der Bergretter kam zu ihm an den Tisch und sagte: »Schön
langsam werden wir aufbrechen, ins Tal absteigen.«
Er deutete durch eine Bewegung des Kinns Richtung Westen. Ȇber der
Lapenscharte kommt’s schon ganz grau. Das Wetter wird schnell umschlagen. Wenn
wir noch lange bleiben, erwischt es uns, und wir werden nass wie die
Stockenten. Kommen Sie mit uns?«
Hosp bejahte, sagte aber auch, dass er noch einige Minuten brauchte.
Er habe noch Sachen im Zimmer liegen, was schon stimmte. Vor allem aber wollte
er diese paar Minuten lang allein sein.
Er nahm Tinhofers Fotoapparat mit und hockte sich in der Kammer auf das
Bett. Das Fotografieren gab ihm zwar privat nicht allzu viel, doch von Berufs
wegen kannte er sich einigermaßen damit aus. Es bereitete ihm keine
Schwierigkeiten, herauszufinden, wie man den Apparat anschaltete und wie man in
den Archiv-Modus gelangte. Zweihunderteinundvierzig Aufnahmen befanden
sich auf der Speicherkarte. Es war ihm scheißegal, ob er und die anderen nass
würden beim Abstieg – er wollte die Bilder sehen. Er drückte die Vorwärtstaste.
Das Bild eines Gletschers. Totale. Abendlicht? Er drückte die Taste, schneller
und schneller. Bilder von Schnee und Eis. Nahaufnahmen von Eiskristallen und
von winzigen Rinnsalen. Totalen von Gletschern und Bilder von Gletscherspalten.
Hosp kam dem Ende schneller näher, als er vermutet hatte. Die Bilder
langweilten ihn. Nicht nur, weil sie auf dem Display natürlich nicht den Reiz
entfalten konnten, den bestimmt viele von ihnen eigentlich hatten, sondern
auch, weil ihm so viel Nur-Natur zuwider war.
Nichts gegen Natur, dachte er. Doch ganz ohne Menschen ist alles
nichts.
Trotzdem stieg die Spannung in ihm. Er kam dem letzten Bild immer
näher. Und genau um das ging es ihm doch: das letzte Bild, das Tinhofer gemacht
hatte. Die Frage stand wie ein Ausrufezeichen im Raum. Warum hatte er in seinen
letzten Lebensmomenten die Kamera in der Hand gehabt?
Noch fünf, noch vier, noch drei Bilder.
Nichts, was Hosp interessiert hätte. Das vorletzte: wieder eine
Nahaufnahme, Firn, Schnee, Eis, irgend so was.
Dann verdunkelte sich das Display, und die Kamera war nicht mehr
dazu zu bewegen, auch nur noch die leiseste Leistungsbereitschaft an den Tag zu
legen.
Der Akku, dachte Hosp. Bestimmt ist der verdammte Akku leer. Er
ärgerte sich, weniger jedoch wegen der Kamera als über sich selbst. Wenn ich
mir nicht die zweihundert und x Fotos angesehen hätte, sondern gleich auf die
letzten gezappt wäre … Doch es half alles nichts. Er musste sich in Geduld
üben.
Er sah auf sein Handy. Es zeigte guten Empfang an. Am liebsten hätte
er Wasle angerufen und ihn nach dem Stand der Dinge
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