Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
Vom Netzwerk:
natürlich
und immer in der Angst, die Schneebrücke könnte einstürzen. Sie stand neben dem
Mann – ja, es war wohl ein Mann, und allem Anschein nach kein junger mehr – und
beugte sich zu ihm hinunter. Sie spürte den Seilzug an ihrem Sitzgurt – und das
wenigstens war ein gutes Gefühl.
    Wie eine Nabelschnur zur richtigen Welt, dachte sie.
    Sie griff an seine Schulter, rüttelte ganz leicht daran. Doch es gab
keine Reaktion. Sie bückte sich noch tiefer, leuchtete ihm ins Gesicht, fasste
sich ein Herz, überwand sich, griff dem Mann an die Wange.
    Marielle schrak zurück. Das war kein Mensch. So fühlte sich kein
Mensch an. So fühlte sich ein Stück Fleisch an, wenn es aus dem viel zu hoch
eingestellten Tiefkühlfach kam … Pablo maulte deswegen immer, weil sie das
Gefrierfach zu hoch schaltete und vor lauter krustigem Eis dann kaum mehr Platz
für die Lebensmittel blieb …
    Der Mann war tot. Erfroren. Oder gestorben an den Folgen des Sturzes
– und dann gefroren wie …
    Sie tastete mit dem Licht den ganzen Körper ab, sah verkrustetes
Blut am Kopf, sah weiße Hände, und eine der Hände hielt eine Kamera fest. Die
Kamera lag auf dem Bauch und die Hand obendrauf.
    Tinhofer. Der Fotograf.
    Die Situation war so bizarr!
    War der Mann abgestürzt und hatte dabei doch die Kamera nicht
ausgelassen? Oder hatte er sie noch bedienen wollen, während er hier im Sterben
lag?
    »Ma…ri…elle! Ma…ri…elle!«
    Sie hörte, wie von weit her, dass ihr Name gerufen wurde.
    »Alles klar …? Was ist los da unten …? Hörst du uns?«
    Marielle schob den Anorakkragen des Mannes ein Stück nach unten,
tastete mit zwei Fingern der anderen Hand nach seinem Puls an der
Halsschlagader, konnte jedoch nichts finden. Der Mann war tot, keine Frage.
    »Er ist tot«, rief sie hinauf »Ich glaube, dass es dieser Tinhofer
ist.«
    »Was?«
    »Tinhofer ist tot.«
    Es kam keine Antwort. Marielle horchte in die Stille, hörte wieder
Wassertropfen und, dabei war sie sich jedoch nicht ganz sicher, auch so etwas
wie Wasserrauschen tief unter sich.
    Endlich hörte sie eine Stimme, ohne sagen zu können, ob sie von
Pablo oder von Michael stammte.
    »Dann … komm … wieder … rauf … Wir … ziehen … dich … rauf!«
    »Wartet noch«, plärrte sie nach oben. »War…tet … noch!«
    Marielle bückte sich, hielt sich dabei mit einer Hand an dem sie
sichernden Seil fest. Sie nahm den Fotoapparat an sich, ein ziemlich großes
Gerät, und hängte ihn sich um. In diesem Moment fiel der Lichtschein ihrer
Stirnlampe auf Tinhofers Bein, auf die weißen Knochenspitzen, die das Gewebe
seiner Hose durchbohrt hatten und die ins Nichts ragten wie die Geweihenden
eines Gamsbockes.
    Sie konnte sich gerade noch ein wenig zur Seite beugen, dann aber
konnte sie ihren Mageninhalt nicht mehr bei sich behalten.
    Sie wollte das nicht, natürlich nicht, aber der Tote bekam auch
einen Schwall von ihrem Erbrochenen ab. Sie spuckte aus, und die Spucke zog
saure Fäden. Nur nicht mehr hinschauen, dachte sie.
    »Hoch! Zieht mich hoch!«, versuchte sie zu rufen. Aber ihre Stimme
war belegt und kraftlos, und jedes Wort schmeckte gallig in ihrem Mund. Sie
musste es mehrmals versuchen, bis sie verstanden wurde. Dann aber dauerte es
keine drei Minuten mehr, ehe sie wieder oben war, blass und schwer atmend im
Schnee lag und sich in derselben Minute schwor, sich nie mehr auf ein solches
Scheiß-Unternehmen einzulassen.
    Sie sah auf zu Pablo und zu Michael. Und zum zweiten Mal innerhalb
einer halben Stunde dachte sie: Arschlöcher. Verdammte Arschlöcher.

16
    Gegen halb neun Uhr morgens, während am Östlichen Stilluppkees
in den Zillertaler Alpen mit der Bergung des toten Fotografen begonnen wurde –
eine ganze Einsatzgruppe der Bergrettung sowie einer der Helikopter standen zur
Verfügung –, läutete es in der Tinhofer-Wohnung Sturm. Einmal, zweimal,
dreimal.
    Kurth war darauf gefasst, dass so etwas geschah. Dennoch war es eine
besondere Stresssituation für ihn. Es konnte die Polizei sein. Konnte er
wissen, was Manczic ihnen alles gezwitschert hatte?
    Er schlich an die Tür und lurte durch den Spion. Im Hausflur war
niemand zu sehen. Was freilich nichts besagte. Wenn es die Bullen waren,
könnten sie sich so postiert haben, dass sie gleichsam unsichtbar waren.
    Und wenn es nicht die Polizei war?
    Es gab verschiedene Möglichkeiten. Es konnte der Mann sein, auf den
er es eigentlich abgesehen hatte. Vielleicht hatte er keinen Schlüssel
mitgenommen, oder er hatte die

Weitere Kostenlose Bücher