Gletscherkalt - Alpen-Krimi
noch gegessen? Gut und reichlich, wie es
den Anschein hat? Rindfleisch, Salat, auch noch Obst oder Obstsalat?«
»Stimmt – und das ist mein ›drittens‹: So was macht man nicht, bevor
man sich umbringt«, sagte Hosp lächelnd.
»Außer man hat Humor«, gab Schwarzenbacher zurück. »Aber welcher
Selbstmörder hat schon Humor …«
Er schob die Fotos zusammen, fragte, ob er die auch behalten könnte,
und wollte zuletzt noch wissen, wo genau man Spiss gefunden hatte.
»Nicht ungefähr – genau. Ich möchte mir das gerne anschauen.«
»Du?«, fragte Hosp perplex. »Deine Freundin hat mir gesagt, dass du
das Haus kaum mehr verlässt. Und dass du mit dem Rollstuhl auch nicht mehr
klarkommst. Wie willst du denn …«
»Ach, Hosp, lass das nur meine Sorge sein. Mit fällt schon etwas
ein«, sagte er. Und dabei dachte er an Marielle und ihren Freund Pablo.
»So, und jetzt wird’s Zeit, dass du mich wieder in Ruhe lässt. Bin
schließlich ein kranker Mann.«
Er ließ sich wieder ins Kissen sinken, zog die Wolldecke bis zur
Brust hoch und sagte noch: »Es hat mich gefreut, dass du gekommen bist. Ein
Pech, dass dir die Enders- CD nicht gefallen hat.«
Er lächelte.
Hosp hatte den Eindruck, dass die zurückliegende Dreiviertelstunde
dem schwer kranken Schwarzenbacher einen neuen Lebensschub verpasst hatte.
Einer geht vor die Hunde, ein anderer lebt auf, dachte er. Verrückte
Welt.
2
Die Bergwanderung von Lajen hinauf zur Raschötz gehörte zu
Hellwages Lieblingstouren. Noch während seiner Zeit als Chefredakteur hatte er
sich in Südtirol ein kleines Häuschen erworben – eigentlich mehr einen besseren
Stadel, den er zu einem bescheidenen Feriendomizil umbauen ließ –, und er war
von da an in jeder freien Minute hierhergekommen. Seine Mitarbeiter in der
Redaktion hatten in den Urlaubswochen weite Reisen unternommen, erst nach
Griechenland, Spanien und in die Türkei, später zu immer ferneren Zielen, wie
zum Beispiel Nepal, Patagonien oder die Philippinen. Er hingegen hatte alles in
der Nähe gefunden: Die Berge waren ihm genug; das Wandern ließ ihn Kraft
schöpfen; das Unterwegssein in der Natur war etwas, wodurch er seinen Kopf frei
bekam und sich gleichsam reinigte vom Schmutz des Alltags und vom Schmutz, der
sich in seinem Beruf nicht auf der Haut, sondern auf der Seele absetzte.
Er war jetzt vierundsechzig, und er hatte sich vor etwas mehr als
zwei Jahren zur Ruhe gesetzt. Seither verbrachte er die meiste Zeit in
Südtirol; kaum mehr als zehn Wochen im Jahr, die er in seiner Innsbrucker
Altstadtwohnung lebte.
Der Anstieg verlief zunächst im Wald, und nur wenn sich dieser Wald
etwas lichtete, war ein Ausblick auf die grandiose Felsszenerie zu erhaschen,
die jenseits des Grödnertales lag. Dann tat sich das Bollwerk des Schlern auf,
ostwärts begrenzt von den markanten Pfeilern der Santner-und der
Euringerspitze. Oder, von Fichten-und Tannengeäst gerahmt, das berühmte
Langkofelmassiv: Plattkofel, Grohmannspitze, Fünffingerspitze und schließlich –
tausend Meter lotrechte, gelborange Wände – der Langkofel selbst.
Hellwage genoss jeden Augenblick des Wanderns. Am liebsten war er
allein unterwegs, seinen Gedanken nachhängend, bisweilen sinnierend, wie er das
nächste Kapitel seines aktuellen Buchprojektes angehen würde. Nach den Jahren
auf dem Chefsessel des »Tiroler Stern« hatte er seine zu jener Zeit meist
ungenutzte Kreativität der Publikation von Sachbüchern zugewandt. Vor einem
Jahr war das Buch »Abgründe – Wohin führt uns der Jugendwahn?« erschienen und
hatte sich innerhalb weniger Monate beinahe hunderttausend Mal verkauft. Das
neue Projekt trug den Arbeitstitel »Jugend. Zu unserer Zeit war alles besser«,
und es sollte sich ein wenig sentimental, ein wenig provozierend, alles in
allem aber mit nicht allzu viel Tiefgang damit befassen, dass die Jugend vor
vierzig und fünfzig Jahren noch mehr Elan hatte, noch auf wahre Ziele
zusteuerte, der Gesellschaft noch etwas zu geben vermochte. Zielgruppe der
Marketingabteilung des Verlages war das gewaltige Heer der rüstigen Senioren.
Und dass Hellwage schon vorab Auszüge in Kolumnenform im »Tiroler Stern«
veröffentlichte, galt als Garant für einen guten Verkaufserfolg.
Er machte eine kurze Rast im Stehen und atmete die erfrischende
Bergluft ganz tief ein. Zuerst durch den Mund, damit sich die Lungen mit der
reinen, staubarmen Luft füllen konnten. Dann durch die Nase, um auch das Aroma
bis in die hintersten Nebenhöhlen zu
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