Gletscherkalt - Alpen-Krimi
hochtourig, ab und an brummte ein Motorrad durch die nahe Kurve,
um dann, in ihrem geraden Auslauf, aufheulend zu beschleunigen.
»Nicht sehr gemütlich hier«, sagte Pablo.
Schwarzenbacher grinste. Marielle hatte ihn schon lange nicht mehr
so … wie sollte sie sagen … so voller Leben und unternehmungslustig gesehen.
»Das Einzige«, sagte er, »was uns passieren kann, ist doch nur, dass
uns der Himmel auf den Kopf fällt.« Und er grinste noch mehr.
»Wohl zu viele Asterix-Hefte gelesen«, sagte Pablo.
»Ich kenn sie auswendig«, gab Schwarzenbacher zurück. Dann wurde
sein Gesicht wieder ernst. Er zog ein Foto aus der Jackentasche, jenes, auf dem
der Leichnam und der Baum zu sehen waren.
»Welcher ist es?«
Auf dem abschüssigen Gelände standen fünf Bäume, die in Größe und
Stärke in Frage kamen. Zwei davon waren nicht weit von ihnen entfernt. Zwei
Buchen mit glatten, silbergrauen Stämmen und starken, weit ausladenden Ästen.
»Der rechte«, sagte Pablo. »Ganz sicher: Es ist der rechte!«
Der Baum stand majestätisch am Hang, etwa zwanzig Meter von ihnen
entfernt und auch einige Meter tiefer.
»Bringt mich hin«, sagte Schwarzenbacher. »Bitte.«
Sie stemmten ihn wieder hoch und zerrten und schleppten ihn zu dem
Baum. Seine Beine vermochten ihn wirklich kaum mehr zu tragen, und so war er
ihnen keine große Hilfe. Überhaupt war es heikel, ihn dorthin zu verfrachten –
zwar war das Gelände nicht wirklich steil, doch ein gemeinschaftlicher Sturz
hätte schlimme Folgen haben können.
»Ich frage mich«, keuchte Schwarzenbacher, »wie man eine Leiche
hierhergeschafft haben könnte. Dazu sind normalerweise zwei Mann notwendig. Und
es ist ganz offensichtlich, dass Spiss nicht lebend hierhergelangt ist. Man hat
ihn überwältigt und ermordet. Und dann hat man ihn hier aufgehängt …«
»Aber wozu?«, fragte Marielle.
»Das sollten wir den Täter fragen. Mit Sicherheit verbirgt sich ein
Symbol hinter dieser Vorgehensweise. Der Mörder, oder sollte ich vielleicht
besser sagen: die Mörder wollten den Toten zur Schau stellen.«
»Pervers«, sagte Marielle.
Sie erreichten den Baum. Im Schatten der dicht belaubten Äste
setzten sie Schwarzenbacher ab. Pablo nahm sich das Foto, umrundete den Baum,
blieb unter einem weit herausragenden Ast stehen, ging zögernd weiter, kehrte
dann um, zeigte auf den Ast und rief: »Hier, der da muss es sein. Hier muss es
geschehen sein.«
Er stand wieder bei Schwarzenbacher, zeigte ihm das Bild, auch
Marielle beugte sich darüber: Es bestand kein Zweifel – das war der richtige
Baum.
»Seht euch um«, forderte Schwarzenbacher sie auf. »Seht euch um und
fragt euch, warum sich jemand hier aufhängen würde. Oder warum ein Mörder sein
Opfer genau hier präsentiert. Schaut euch um.«
Während er auf dem Boden zum Stamm krabbelte, sich seitwärts bewegte
wie ein Käfer, blieben Marielle und Pablo stehen und besahen sich das ganze
Szenario.
»Wer mit dem Auto die Straße heraufgekommen ist, der konnte den
Toten hängen sehen.« Marielle zeigte auf den Abschnitt der Straße, der dafür in
Frage kam.
»Du meinst, die von oben Kommenden sahen ihn wohl eher nicht«, sagte
Pablo. »Denkst du, dass so etwas Zufall ist?«
»Ich denke …«, setzte Marielle an, doch sie wurde von
Schwarzenbacher unterbrochen.
»Ich sage euch eines: Der Täter hat beabsichtigt, dass der Leichnam
leicht zu finden ist. Zugleich hat er eine Stelle ausgewählt, in der er nachts,
bei der Ausübung seines Vorhabens, nicht allzu leicht zu entdecken ist. Das
passt hier alles.«
Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm des Baumes und sah hinauf
zur Europabrücke.
Pablo, der seinem Blick gefolgt war, sagte: »Da ist schon mal einer
runtergeflogen.«
»Einer?«, erwiderte Schwarzenbacher. »Viele. Allein aus der Zeit, wo
ich im Dienst war, weiß ich von mehreren Selbstmördern, die da oben über die
Brüstung gestiegen sind.«
»Ich red nicht von Selbstmördern. Da ist einer als Basejumper
runter, mit so einem Fledermaus-Anzug, wo die Arme mit dem Körper so eine Art
Tragflächen bilden.«
Schwarzenbacher sah ihn ungläubig an. »Du erzählst Scheiß, oder?«
Pablo schüttelte den Kopf. »Nein, ganz im Ernst. Irgendwer hat das
gefilmt, und ich hab davon erfahren. Auf YouTube findest du einen Clip.«
»Und ihr würdet so etwas Wahnsinniges am liebsten auch machen,
oder?« Er sah von Pablo zu Marielle und wieder zurück.
Pablo sagte nichts. Marielle hingegen gab eine Antwort: »Mit
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