Gletscherkalt - Alpen-Krimi
saugen: Duft von Nadelwald und von Harz,
von feuchter Erde und von der Ahnung des Schnees, der weiter oben noch immer
die Gipfel bedeckte.
Was für ein herrlicher Tag, dachte er.
Der Tag war noch jung. Es ging gerade erst auf neun Uhr zu. Hellwage
war von seinem Haus die paar Kilometer bis Lajen gefahren, hatte beim
Sportplatz geparkt und war auf dem alten Poststeig nach Tschöfas gewandert und
dort, oberhalb des Dorfes, in den Wald eingetaucht. Er rechnete mit rund vier
Stunden für den Aufstieg. Und etwa zweieinhalb für den Rückweg. Es war
werktags, und so kam es nicht von ungefähr, dass er ganz allein unterwegs war.
Am Wochenende wäre mehr los gewesen, aber gerade diese Einsamkeit war es ja,
die er besonders schätzte.
Nachdem er wieder ein Stück gegangen war, drängte sich ihm erstmals
der Eindruck auf, er wäre doch nicht allein. Mal hörte er ein Knacksen im Wald,
mal überraschte ihn das aufgeregte Zwitschern von Vögeln irgendwo abseits des
Weges. Er blieb stehen, sah sich um: niemand.
Du bildest dir was ein, sagte er in Gedanken zu sich selbst. Da ist
niemand.
Er wusste natürlich, dass schon ein fliehendes Karnickel im
Unterholz so viel Krach machen konnte, dass man glaubte, ein Hirsch komme aus
dem Wald. Oder ein Mensch.
Da ist niemand, dachte Hellwage.
Das Gefühl aber blieb.
*
Pablo, Marielle und Schwarzenbacher fuhren in
Schrittgeschwindigkeit auf der Brennerstraße unterhalb der Europabrücke. Hinter
ihnen wurde die Schlange der Fahrzeuge immer länger.
»Ich kann hier nicht so rumkriechen«, maulte Pablo.
Sie wurden von einem Wagen riskant überholt; der Fahrer schaute
wütend zu ihnen herüber und zeigte Pablo den Vogel.
»Die sollen sich nicht so haben«, sagte Schwarzenbacher. »Siehst du
die Einbuchtung da vorn? Da kannst du wahrscheinlich so halb reinfahren. Hier
müsste das irgendwo sein.«
Pablo schaltete die Warnblinkanlage ein und ließ das Auto rechts
heranrollen. Hupend zogen die Fahrzeuge, die hinter ihnen hergezockelt waren,
an ihnen vorbei.
»Idioten«, schimpfte Schwarzenbacher, und er zeigte den Leuten durch
die Frontscheibe den Stinkefinger.
»Man merkt, dass du schon länger nicht mehr im Polizeidienst bist«,
sagte Pablo. »Ist ja nicht gerade gesetzeskonform, was du da tust …«
»Wenn Polizeiarbeit vor allem gesetzeskonform wäre«, sagte
Schwarzenbacher mürrisch, »dann wären wir immer drei Schritte hinter den
Verbrechern gewesen.«
Eine Aussage, die Pablo überraschte und ein wenig verstörte, doch
ließ er sie auf sich beruhen. Es gab Wichtigeres zu tun.
Gemeinsam mit Marielle hievte er Paul aus dem Auto. Es war noch
nicht allzu lange her, da konnte Schwarzenbacher so etwas noch selbst: sich
aufrichten, sich an irgendetwas hochziehen, ein Stück irgendwo entlanghangeln.
Aber das war vorbei. Seine Beine trugen ihn oft überhaupt nicht mehr, und seine
Arme hatten viel von jener Kraft verloren, die sich einmal durch das
Rollstuhlfahren aufgebaut hatte.
Marielle und Pablo stützten Schwarzenbacher zu beiden Seiten; sie
spürten sein Gewicht schwer auf ihren Armen. Es war kein geringes Problem, mit
dem schwerbehinderten Mann die rege befahrene Straße zu überqueren. Und es war
gefährlich!
Doch irgendwie gelang es ihnen, Schwarzenbacher auf die andere Seite
zu bringen. Damit aber waren längst nicht alle Schwierigkeiten gemeistert. Vom
Bankett fiel das Gelände nicht allzu steil ab: Ein geneigter Wiesenhang mit ein
paar großen, vereinzelt darin stehenden Laubbäumen. Vor nicht allzu langer Zeit
war gemäht worden, das Gras stand kurz, sie konnten in einiger Entfernung eine
schwarz-weiß gefleckte Katze streifen sehen.
»Setzt mich erst mal da ab«, sagte Schwarzenbacher. Seine Stimme kam
angestrengt, sein Atem ging gepresst. Die Aktion musste ihn genauso viel Kraft
gekostet haben wie die beiden jungen Leute.
Die Katze blieb stehen, äugte zu ihnen herauf, schien misstrauisch
zu sein, setzte ihren Weg schleichend und mit gehörigem Abstand zu ihnen fort.
»Hier irgendwo muss es sein«, sagte Schwarzenbacher. »An einem
dieser Bäume hat sich Spiss erhängt. Was aber gar nicht stimmt. Irgendwer hat
ihn hier aufgehängt. Warum, weiß der Teufel.«
Sie hockten ein paar Schritte unterhalb der Straße. Das Gelände
bildete einen schmalen Absatz, so als wäre hier früher, als noch eine
landwirtschaftliche Nutzung üblich war, ein schmaler Fahrweg oder Fußweg
verlaufen. Über ihnen röhrten Lastwägen in der Auffahrt Richtung Brenner, Pkws
fuhren viel zu
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