Gletscherkalt - Alpen-Krimi
heute ist dein Feind morgen. Besser du tötest ihn
gleich.
Das Gesicht hatte sich blau-violett verfärbt, die Augen waren aus
ihren Höhlen getreten, und mit den Beinen hatte der Junge gezappelt, erst wild,
dann immer kraftloser, dann noch einmal und noch einmal – und dann war er starr
dagehangen, während ihm der Urin aus den Hosenbeinen tropfte.
Spielt es eine Rolle, ob ich lebe oder nicht?, dachte er. Spielt
keine Rolle. Was spielt es dann für eine Rolle, ob dieser Junge lebt oder
nicht? Es spielt keine Rolle. Die Welt ist voller Menschen, es gibt zu viele.
Es ist nichts anderes als Ameisenzertreten.
Er pinkelte an den Baum und ging dann weiter.
Nach insgesamt eindreiviertel Stunden erreichte er die Hütte. War es
in Innsbruck noch kühl und grau gewesen, so hatten sich schon während seines
Aufstieges die Wolken immer mehr verzogen, der Himmel hatte sich aufgeklart,
und die Sonne brachte an diesem Spätnachmittag die Landschaft ringsumher in
Goldtönen zum Leuchten.
Er grüßte die Leute, die vor der Hütte saßen, und er wurde
zurückgegrüßt. Er stellte den Rucksack ab und zog sich ein frisches T-Shirt an;
das verschwitzte hängte er über das Holzgeländer, das die südwestlich
ausgerichtete Terrasse begrenzte.
Manczic befand sich nicht unter den Leuten auf der Terrasse.
Vielleicht saß er ja drinnen. Er lächelte. In der Stadt kam dieser Manczic
daher, als wäre er gebrechlich und ein bisschen verrückt. Verrückt war er ja,
aber gebrechlich – das nicht, im Gegenteil, er war sogar noch ziemlich fit für
sein Alter. Und die gelegentlichen Treffen auf Berghütten schienen ihn vor
keine Probleme zu stellen.
Er ging zu der Durchreiche, wo im Selbstbedienungsverfahren Speisen
und Getränke ausgegeben wurden. Er verlangte nach einem Weißbier und fragte
nach einem Nachtquartier.
»Hast dich angemeldet?«, fragte der Mann an der Essensausgabe, ihn
ohne Umschweife duzend, wie das in den Bergen ab tausend Metern Höhe
überlieferter Brauch war.
Er schüttelte den Kopf.
»Bist allein?«
Er nickte.
»Kein Problem. Für einen haben wir immer noch Platz.«
Unaufgefordert holte er den Alpenvereinsausweis, den er sich vor ein
paar Wochen organisiert hatte, aus der Tasche und schob ihn dem Mann über den
Tresen.
»Das mit dem Matratzenlager machen wir bisserl später«, sagte der.
»Setz dich erst mal hin, Paul, und trink dein Bier. Ich komm nachher an deinen
Tisch.«
»Paul Kurth, 02.06.69, Mitglied der Sektion Oberland«, stand auf der
Karte, die ungelenk unterschrieben war. Niemand wollte mehr von ihm wissen als
nur das, was auf diesem Alpenvereinskärtchen stand.
Als er den Auftrag von Manczic übernommen hatte, waren ihm die
Möglichkeiten bewusst geworden, die ihm ein solcher Ausweis bot. Er war ein
paarmal zu Berghütten gegangen und hatte nur beobachtet, wie das dort
gehandhabt wurde. Schnell war ihm klar geworden, dass er tagelang von einer
Hütte zur nächsten, von einer Bergregion in eine andere wechseln konnte, ohne
dass er seine Identität hätte preisgeben müssen.
In aller Ruhe trank er sein Bier auf der Terrasse, schaute den
anderen Leuten zu, von denen offensichtlich einige hier übernachten würden,
während andere sich anschickten, noch ins Tal abzusteigen; er ließ sich die
letzten Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen und genoss den Ausblick zu den gegenüberliegenden
Bergen. Ja, er genoss ihn.
Danach trat er in die Hütte, wo das große Hüttenbuch auslag. Dort
trug er sich ein, schrieb: »Paul Kurth, DAV -Oberland,
München«. Notierte das Datum seines Aufstiegs und sein Vorhaben am nächsten
Tag: »Aufstieg zur Brunnsteinspitze« – den gut zweitausend Meter hohen Hausberg
der Hütte hatte er an der Wanderkarte ausfindig gemacht, die in der Hütte an
die Holzwand gepinnt war –, und überflog ganz nebenbei die vorausgegangenen
Einträge.
Manczic war noch nicht hier gewesen.
Also würde er morgen kommen.
Und wenn nicht?
Er dachte an Hellwage. Und wie der am Balken hing. Er fragte sich,
ob der noch lebte. Seine stumme Antwort war Nein.
Krieg, dachte er.
Denn für ihn hatte der Krieg nie aufgehört.
Er holte sich noch ein Weißbier und bestellte sich eine
Erbswurstsuppe und einen Schweizer Wurstsalat.
Er ging aber nicht mehr auf die Terrasse hinaus. Dort begann es kühl
zu werden. Er setzte sich an einen kleinen Tisch in der Stube, trank sein Bier in
kleinen Schlucken und beobachtete alles, was um ihn herum geschah.
Paul Kurth, dachte er. Mein Name ist Paul Kurth.
Er
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