Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Langkofelmassiv erhob sich mehr als tausend Meter
über der »Steinernen Stadt«, und die Sonne, die um die Sella kam, gab noch
nicht allzu viel Wärme ab.
Zum Bouldern war es den beiden noch zu kühl. Sie wanderten zwischen
den unzähligen Blöcken umher, suchten nach »Problemen«, die sie interessieren
könnten, und schauten immer wieder einmal hinauf zur Langkofelscharte, die sich
tief zwischen dem gigantischen Hauptgipfel und der Fünffingerspitze einschnitt.
»Von irgendwo da oben müssen diese ganzen Blöcke mal runtergedonnert
sein«, sagte Marielle. »Wahrscheinlich ein riesiger Bergsturz vor Tausenden vor
Jahren, so lange her, dass nichts überliefert ist, niemand davon berichtet
hat.«
Pablo griff an den Fels des nächstgelegenen Boulders. »Ffffth.
Verdammt kalt noch. Vielleicht sollten wir zum Pass hochfahren oder drüben ein
Stück runter und in einem der Albergos erst noch mal einen Cappuccino trinken.
In einer Stunde ist es hier dann auch warm genug …«
»Nur, wenn es dazu Cornetti con Crema gibt«, sagte Marielle lachend.
»Versprochen«, sagte Pablo.
»Okay.«
Sie rannten mehr, als dass sie gingen, zum Auto zurück. Es waren nur
zwei lang gestreckte Kurven, bis sie die Passhöhe erreichten, wo zur Linken die
Sellatürme aufragten.
Sie hielten am Fahrbahnrand, stiegen aus und genossen das alpine
Panorama. Sie sahen ein Stück vom wild gezackten Rosengarten. Sie sahen die in
der Morgensonne strahlend weiße Gletscherfläche der Marmolata. »Auf der anderen
Seite gibt es achthundert Meter hohe Südwände«, sagte Marielle. »Muss
bombenfester Fels sein. Aber auch ziemlich ernste Routen.«
Sie sahen hinüber zum Sass Pordoi mit seiner Achthundert-Meter-Wand.
Und sie sahen hinauf zu den Türmen, wo sie gestern schon waren und wo es noch
viele Touren gab, auf die sie beide ganz scharf waren.
»Ich würde lieber runterfahren zu dem Gasthaus, von wo aus man zum
Sass Pordoi geht«, sagte Pablo. »Auf diese Selbstbedienungsabfertigung in den
Pass-Häusern stehe ich einfach nicht so.«
Sie fuhren über die Passhöhe hinüber und südseitig hinab. In jeder
Kehre eröffneten sich ihnen neue, immer spektakulärere Ausblicke. Faszinierend
für gute Kletterer, doch zugleich selbst für jene etwas Bedrohliches
ausstrahlend. Die Felswände waren absolut senkrecht, das Gestein grau oder
gelb, und wo Wasser herunterlief, hatten sich teerschwarze Streifen gebildet.
Es waren Wände, die bei Marielle immer Überwindung erforderten. Sie wusste,
wenn erst einmal zehn oder zwanzig Meter geklettert waren, verflüchtigte sich
dieses Unbehagen und machte oft purer Kletterlust Platz. Pablo erging es damit
nicht anders. Doch heute war es ohnehin egal – sie würden lediglich bouldern,
an kleinen, zumeist überhängenden Blöcken herumhängen und dabei hinaufschauen
zu den Big Walls und den Türmen, die ihre Spitzen in den wolkenlosen Himmel
reckten. Mental würde dieses Bouldern keine großen Herausforderungen an
Marielle und Pablo stellen. Aber sie würden Kletterzüge machen müssen, die
alles überstiegen, was sie in den Mehrseillängentouren jemals bewältigt hatten.
Marielle taten jetzt schon die Finger, die Unterarme und die
Schultern weh, wenn sie an den Muskelkater dachte, den sie morgen unweigerlich
haben würde.
Sei’s drum, dachte sie.
Im Rifugio Monti Pallidi war mehr los, als Marielle und Pablo
erwartet hätten. Eine große Gruppe junger Leute sorgte plaudernd, scherzend,
lachend für einen stattlichen Lärmpegel in der Gaststube. Marielle wollte Pablo
an einen Tisch ziehen, der etwas abseits stand. Doch die beiden wurden von den
jungen Leuten – eine offensichtlich ziemlich internationale Zusammensetzung –
anscheinend auf Anhieb als Kletterer erkannt.
»Hi!«, riefen die ihnen entgegen. Und »Salü!« und »Ciao!«.
»Climbers?«, fragte ein Junge auf Englisch, wobei die italienische
Tonfärbung allein an diesem einen Wort schon zu hören war. »Would
you like to have coffee with us?« Es klang wie »Wulld ju leike to äfe
coffi wiss asse?«
»Kann man schlecht Nein sagen«, meinte Pablo. Und sie setzten sich
zu den jungen Leuten. Schnell war klar, dass es sich um eine Boulderclique
handelte, angereist aus Bozen, wo die meisten von ihnen studierten. Italiener,
Südtiroler, eine Schweizerin, eine Deutsche und ein Deutscher und ein Junge aus
Südamerika. Ihr Ziel war die »Steinerne Stadt« – nach diesem Frühstück hier und
wenn die Sonne warm genug vom Himmel schiene.
»Wir könnten alle
Weitere Kostenlose Bücher