Gletscherkalt - Alpen-Krimi
heran, zwang ihm ein zusammengewickeltes Tuch
zwischen die Zähne, das wie eine Trense im Pferdemaul wirkte und ihm jegliches
Schreien unterband, und verknotete es hinter seinem Kopf.
Dann ging er zur Tür, drehte sich noch mal zu Hellwage um und sagte:
»Falls dich jemand besuchen kommt – schick ihn weg. Weil ich sonst das Gleiche
mache mit ihm. Verstehst?«
Hellwage wollte etwas sagen, wollte bitten und flehen, aber es kamen
nur undefinierbare Laute aus seinem geknebelten Mund. Der Mann grinste und
schloss hinter sich die Tür.
Es kommt niemand hierher, dachte Hellwage. Niemand, niemand,
niemand.
Er wusste, dass es aus war. Und in seine maßlose Verzweiflung
mischte sich der Ekel darüber, dass er diesem Verbrecher den Namen des
Fotografen genannt hatte.
Wenn ich schon sterben muss, hätte ich ihn wenigstens auf eine
falsche Fährte setzen können.
Doch dieses Schuldgefühl hielt nicht lange vor. Hellwage spürte den
Strick an seinem Hals. Und er wollte nicht sterben.
*
In Tirol war es ein trüber Tag, bisweilen wanderten Regenschauer
durchs Inntal hindurch und zogen nach Osten hin ab, die Sonne zeigte sich so
gut wie nie. Kaum aber waren Marielle und Pablo über den Brennerpass nach
Italien hineingefahren, war der Himmel wie freigefegt – azurro mit ein paar
kleinen weißen Wölkchen.
Beim Cappuccino an der Autobahnraststätte kurz vor Brixen begann
auch Pablo so etwas wie Freude zu zeigen. Davor war seinem Kummer nicht
beizukommen gewesen. Noch immer machte er sich Vorwürfe wegen Manczic. Und
zudem war er verärgert, dass er die Überwachung dieses Sonderlings hatte
aufgeben sollen, weil das Hosps Leute nun übernommen hatten. Schließlich hatte
er gehofft, auf diesem Weg seine Scharte wieder auswetzen zu können.
Jetzt aber, angesichts der Plose, wo sie im Winter schon einige Male
beim Skifahren waren, in Anbetracht des besten Kaffees, den man zwischen
München und Bozen bekommen konnte, und im guten Gefühl, dass dieses traumhafte
Wetter die optimalen Voraussetzungen für Berg-und Kletterabenteuer bot,
heiterten sich seine Gesichtszüge zunehmend auf.
Mitten im Gewühl der Leute, die in die Café-Bar drängten – eben war
ein Reisebus angekommen, hatte seine Passagiere gleichsam ausgespien, und die
zog es nun zu den Toiletten oder ans Buffet –, dachte er an die Felstürme der
Dolomiten, an die Geislergruppe über dem nahen Villnößtal, an die Felsen zu
beiden Seiten des Grödnerjoches, an die Sellatürme, an den Rosengarten mit
seinen berühmten Vajolettürmen und an die weit im Süden gelegene Palagruppe, wo
der Fels besonders gut, das Wetter aber auch besonders wankelmütig war.
So weit, bis in die Pala, werden wir nicht fahren, dachte er. Bis in
die Sella vielleicht. Er erinnerte sich an Touren vergangener Jahre,
Kletterrouten im fünften, sechsten, siebten Grad – mit Marielle oder mit
anderen Kletterfreunden. Oft in gewöhnungsbedürftigem Fels. Oft mit nur wenigen
Haken abgesichert. Die »Messner« am zweiten Sellaturm beispielsweise. Oder die
»Via Niagara« am Sass Pordoi jenseits des Sellajochs.
»Ist dir schon mal bewusst geworden«, fragte er Marielle, »was das
so ganz Besondere am Dolomitenklettern ist?«
Sie sah ihn zweifelnd an. »Die komische Felsstruktur?«
Pablo schüttelte den Kopf. »Das ist sicher ein Charakteristikum für
das Gebiet. Aber das wirklich ganz Besondere ist doch, dass man ein Faible für
die Senkrechte haben muss. Es ist alles unglaublich steil hier. Und selbst in
gar nicht so schwierigen Routen hat man unheimlich viel Luft unter den Sohlen.
Man muss das mögen. Andernfalls bekommt man einen Höhenkoller.«
»Stimmt«, sagte Marielle. »Das hat es mir bei unseren ersten
Dolomitentouren auch ganz schön schwer gemacht. Ich hatte das Gefühl, den
Kletterschwierigkeiten immer gewachsen zu sein. Aber diese Tiefe unter mir …
das hatte erst mal etwas Bedrohliches.«
»Hast dich aber schnell dran gewöhnt«, sagte Pablo.
Marielle lächelte. »Es ist aber immer wieder aufs Neue
gewöhnungsbedürftig«, sagte sie. »Bei so ziemlich jeder Dolomitentour muss ich
mich erst wieder überwinden. Dann aber kann es süchtig machen.«
»Es ist das Adrenalin, das einen alles so intensiv erleben lässt.«
Pablo löffelte Zucker und Cappuccino-Schaum aus seiner Tasse und leckte sich
genießerisch die Lippen. »Manchmal ist das dann wie ein Rausch, wie eine Droge.
›Natural High‹, wie Messner es genannt hat.«
»Hör mir mit dem auf!«, maulte Marielle. »Du
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