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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
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es kam. In ihm war ein Schuldgefühl gewachsen wie ein böses
Geschwür in der Leber. Und das Schlimmste: Er war allein mit diesem ihn von
innen her verschlingenden Ungeheuer. Nicht einmal seiner Frau hatte er sich
anvertraut. Niemand wusste von seiner Pein.
    Seine Frau hatte ja nicht einmal mitgekriegt, dass er damals das
Foto gemacht hatte. So konnte sie auch nicht wissen, dass er es war, er ganz
allein, der dem Mädchen vielleicht noch hätte helfen können.
    »Deine Bilder machen mir Angst«, waren lange davor schon ihre Worte
gewesen. »Immer Unfälle, Tragödien, Schlimmes. Nein, ich will das nicht sehen.«
    »Ach geh«, hatte er geantwortet. »Ich fotografier auch die Promis.
Die Schauspieler vom Landestheater oder die Politiker oder die Fußballer von
Wacker Innsbruck …«
    Doch sie hatte nur den Kopf geschüttelt. »Will ich alles gar nicht
wissen. Wenn du schöne Bilder von Tieren machst oder von Blumen, meinetwegen
von unseren Tiroler Bergen, dann kannst mir das zeigen. Alles andere …«
    Alles andere wollte sie nicht wissen, nicht wahrhaben. Und so war
Tinhofer allein geblieben mit seinen Schuldgefühlen. Hatte versucht, seine
Tochter und den dreieinhalb Jahre jüngeren Sohn noch mehr zu lieben – was aber
eigentlich gar nicht ging. Hatte versucht, sein Gewissen mit karitativer
Haltung zu beschwichtigen, hier was zu spenden und da – doch seinem Gewissen
war das alles egal gewesen. Eine leichte Verbesserung hatte sich jedoch
eingestellt, als er den Dienst als Pressefotograf quittiert hatte und fortan
die einsamsten Stellen des Gebirges aufzusuchen begann. Das Alleinsein hatte
ihm das Herz, das Gehirn und die Seele ein wenig gereinigt. Wenn er im Sommer
irgendwo im Schlafsack unterm Sternenhimmel lag, dann stellte sich jedes Mal
beinahe ein Gefühl der Harmonie mit sich und der Welt ein. Beinahe nur, doch
das war ja schon so unendlich viel mehr, als er sich je hätte erträumen können.
    Doch Spiss sah ihn an. Nur als Foto, ein Porträt. Es genügte, um
Tinhofer einen Stich in den Magen zu versetzen. Er hatte das Gefühl, von einer
Sekunde auf die andere Durchfall zu bekommen. Am liebsten wäre er hinausgerannt
und hätte sich hinter dem nächsten Busch erleichtert. Es blieb ihm nichts
anderes übrig, als die Pobacken im wahrsten Sinne des Wortes zusammenzukneifen.
Er konnte ja schlecht aus der Tankstelle stürmen, ohne bezahlt zu haben.
    Hinter Mayrhofen hielt er am Straßenrand, kauerte sich an die
Holzbalken eines Heustadels und versuchte nachzuholen, was kurz zuvor noch so
dringlich war. Vergeblich. Sein Magen rebellierte. In seinem Darm ging es zu,
als hätte eine Waschmaschine auf Schleudergang geschaltet. Aber nichts kam aus
ihm heraus, nichts außer üblem Geruch.
    Er zog sich wieder an und hockte sich ein paar Meter weiter auf den
Boden, den Rücken ans angenehm warme Holz gelehnt. Die Sonne tat ihm gut. Er
schloss die Augen und versuchte, ein gutes Gefühl aus seiner Kindheit wieder
aufzuspüren.
    Die Sonne schien ihm ins Gesicht und auf den Bauch. Und da hatte sie
die Wirkung einer Wärmflasche, brachte Linderung, Beruhigung.
    Tief und gleichmäßig atmen, dachte Tinhofer. Alles ist leichter zu
ertragen, wenn man tief und gleichmäßig atmet.
    Erst als ihn sein Leib nicht mehr schmerzte, setzte er die Fahrt
fort. Bis zu seinem Ziel war es nicht mehr weit, und bald tat sich eine
eindrucksvolle Berglandschaft vor ihm auf.
    Ihm war nicht entgangen, dass Spiss gestorben war. Auch er las
Zeitungen, hörte Radio – meist beim Autofahren – und schaute fern. Doch bei
seinem Aufbruch in Innsbruck war er nur voll Freude gewesen, eine Freude, die
ihn ausgefüllt hatte, die keinen Platz mehr ließ für Zweifel und Kummer. Nun
war alles anders. Die Weiterfahrt gestaltete sich freudloser. Das Gewissen
nagte an Tinhofer, und er setzte alle Hoffnung darauf, im Alleinsein inmitten
der Berge wieder so etwas wie Frieden finden zu können.
    Frieden, dachte er. Meinen kleinen Frieden.
    *
    Das Demetz-Häusl war verschlossen, die Fensterläden waren zu.
    »Alles voller Erde hier auf der Terrasse«, sagte der Mann mit dem
blauen Schurz verwundert. »Überall Erde.«
    Der junge Handwerker rüttelte an der Türklinke.
    »Es ist niemand da«, sagte er.
    »Dann fahren wir zurück«, sagte die Frau, die Hellwage in der
Zeitung erkannt hatte, »und rufen bei der Polizei an und sagen denen, dass wir
den kennen und dass wir wissen, wo der wohnt, und dass er aber jetzt nicht da
ist und …«
    »Ist ja gut!«, sagte der

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