Gletscherkalt - Alpen-Krimi
ihr
vertraut; fremd und beängstigend war für sie die Vorstellung, mit einem Gelenk
aus Titan oder Kunststoff herumzulaufen.
»Kannst du wenigstens anrufen?«, bat sie ihren Mann, als er den
Rucksack im Kofferraum verstaute.
Er lächelte sie an.
»Ich ruf dich immer an, das weißt du. Immer, wenn ich da droben im
Gebirge Empfang habe. Wenn nicht, brauchst dir auch keine Sorgen zu machen. Ich
pass schon auf mich auf.«
Sie hatten sich geküsst, kurz, aber nicht flüchtig, und ein
Außenstehender von gewisser Sensibilität hätte erkannt, dass dieses Paar zweier
über Sechzigjähriger noch immer innig miteinander verbunden war, seelisch und
sexuell, da war nichts erkaltet oder gar erloschen. Sie waren noch Mann und
Frau, nicht zwei Neutren. Er gab ihr sogar einen Klaps auf den Po.
Sie hatte ihm nachgewunken, als er auf die Straße hinausgefahren
war, und er hatte zurückgewunken, den Arm aus dem Fenster, und er hatte noch
gerufen: »Spätestens in fünf Tagen bin ich wieder da!« Doch das hatte sie nicht
verstanden, weil gerade wieder eines dieser verdammten Flugzeuge im Landeanflug
auf den Innsbrucker Flughafen tief übers Haus donnerte.
In den Bergen fühlte er sich sicher und gut aufgehoben. Sie waren
ihm mit den Jahren immer vertrauter geworden. Das wusste sie. Und deshalb hatte
sie auch nicht mehr so viel Angst wie früher. Gleichwohl war da diese bange
Unbehaglichkeit, wenn er unterwegs war. Außerdem: Meistens rief er eh nicht an …
Tinhofer fuhr in die Zillertaler Alpen. Nachdem er seinen Beruf
als Pressefotograf aufgegeben hatte, war ihm die Landschaftsfotografie zur
Passion und zu einem neuen Standbein geworden. Für zwei Verlage hatte er in den
vergangenen Jahren großformatige Bildkalender produziert. Seine Fotos waren in
verschiedenen Magazinen erschienen. Er hatte sich einen – neuen – Namen machen
können. Und nun arbeitete er an seinem ersten Buch. Es würde von den
Alpengletschern handeln, von ihrer grandiosen Schönheit, aber auch von ihrem
Verenden in Zeiten größter Umweltbelastung und unaufhaltsamen Klimawandels.
Tinhofer genoss nichts mehr als diese Tage in größter Einsamkeit. Er
baute sein winziges Zelt an Stellen auf, wo sonst kein Mensch übernachten
würde. Oft direkt am Rand von Gletschern, bisweilen auch schon mal auf einer
»Insel« aus Fels und Geröll, die vom Eis eines Ferners oder Keeses, wie es oft
auch hieß, umflossen wurde. Es lag in seiner Absicht, von Stellen aus Fotos zu
schießen, die sonst kaum ein Bergsteiger aufsuchte. Und er wollte zu Zeiten da
sein, wo er sich ganz allein fühlen konnte mit der Urnatur des Hochgebirges:
morgens, bei der ersten Dämmerung. Oder abends, wenn das Licht schwand. Oder
mitten in der Nacht, wenn Mond und Sternenhimmel die Landschaft verzauberten.
Schon bei seinen Kalendern hatte er viel Lob dafür erfahren, den Menschen die
Natur aus außergewöhnlichen Perspektiven und im ungewöhnlichsten Licht zu
zeigen.
Daheim in seinem kleinen Arbeitszimmer hatte er eine Postkarte an
der Pinnwand hängen, eine Yosemite-Fotografie in Schwarz-Weiß, aufgenommen vom
legendären Ansel Adams und versehen mit einem Zitat ebendieses großartigen
Künstlers aus Kalifornien: Es ist nicht entscheidend, was
man sieht, sondern wie man es sieht …
Tinhofer war dieser Satz zum Credo geworden. Er hatte den Schmutz
von den Händen gewaschen, die besudelte Kleidung an den Haken gehängt und ein
neues Leben, ein neues Fotografenleben begonnen: unter blauem Himmel, in reiner
Luft, in Landschaften ohne Menschen.
Voller Vorfreude fuhr er nach Mayrhofen.
An der Tankstelle unweit des Bahnhofs hielt er. Vorsichtshalber noch
ein paar Liter nachzufüllen konnte nicht schaden.
Doch kaum stand er am Schalter, um mit der Scheckkarte seine
Rechnung zu begleichen, bereute er es schon zutiefst, in Mayrhofen noch
gehalten zu haben. Von der Titelseite des »Tiroler Stern« blickte ihm der
Reifenmogul Spiss in die Augen – und daneben stand in fetten Lettern: »Mordfall
Spiss – Ermittlungen stocken«.
Es war ihm in all den Jahren nie gelungen, diese Nacht ganz zu
vergessen. Das von der Fahrbahn abgekommene Auto, zertrümmert am Baum. Die
beiden Insassen, die er für tot gehalten hatte, für tot hatte halten müssen.
Und dann das Wimmern des fürchterlich verletzten Mädchens. Tausendmal war er
von diesem Anblick erwacht, tausendmal und noch viel öfter hatte er sich
Gedanken darüber gemacht, was richtig gewesen wäre, was falsch war und warum es
einfach so kam, wie
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