Gletscherkalt - Alpen-Krimi
zusammen zum Bouldern gehen«, sagte die Deutsche,
die sich als Kathi vorstellte. »Kommt doch einfach mit. In der Gruppe macht das
Bouldern doch eh viel mehr Spaß als nur so zu zweit, oder.«
Marielle fand sie auf Anhieb sympathisch – vielleicht auch
deshalb, weil ihr auffiel, dass sich dieses Mädchen einen ganz leichten Tiroler
Tonfall angewöhnt hatte und nach bester Tiroler Art ein »Oder« ans Ende der
Sätze hängte, auch wenn es keine Frage war und sie keine Antwort erwartete.
»Und ich kenn dich«, sagte sie zu Marielle. »Bin oft in Innsbruck.
Du bist die, die letztes Jahr in allen Zeitungen war, oder. Wegen diesem Mann,
der andere mit Steinen erschlagen hat …«
Marielle erschrak so, als wäre fünf Meter oberhalb des letzten
Zwischenhakens ein Griff ausgebrochen. Doch sie fing sich, konnte einen Sturz
gerade noch vermeiden. Ihre Hände allerdings zitterten. Sie legte sie schnell
auf ihre Knie unterm Tisch, damit niemand etwas davon bemerkte.
Diese Kathi setze das Gespräch aber nicht fort, sie wurde von
Freunden abgelenkt, und Marielle war froh, dass ihre Person fürs Erste wieder
in Vergessenheit geriet. Nachdem dann auch Pablo und sie Cappuccini und
Cornetti vertilgt hatten, entschieden sich alle miteinander, jetzt
hinaufzufahren in die chaotische Felslandschaft unterm Langkofel, und sich
einen Tag zu machen, bei dem sich Konzentration auf absolute Höchstleistungen
und Spaß, Gaudi und Relaxen die Waage halten würden.
»Ist ein netter Haufen«, sagte Pablo zu Marielle, als sie hinter den
beiden Autos der Bozner Studenten die Passstraße wieder nach oben kurvten.
»Macht bestimmt Spaß mit denen.«
Auch wenn kaum mehr als eine Stunde vergangen war, seit sie zum
Albergo aufgebrochen waren – die Sonne stand jetzt höher, hatte schon mehr
Kraft, die Temperatur war fürs Bouldern schon annehmbar.
»Zu warm ist auch nichts«, sagte Marielle, »da bekommt man nur
schwitzige Finger und kann sich trotz Magnesia nicht mehr so gut halten. Vor
allem dann nicht, wenn die Griffe so nach unten geneigt sind.«
In der »Steinernen Stadt« angekommen, bildeten sich kleine
Grüppchen, die sich an den Boulderproblemen im unmittelbaren Umkreis
versuchten.
Diese Grüppchen bestanden aus drei Personen – und nur eine davon
kletterte. Die beiden anderen waren sogenannte »Spotter«. Sie standen bereit,
um dem Boulderer bei einem Sturz oder auch einem freiwilligen Absprung
Hilfestellung leisten zu können, ihn abzufangen oder zumindest zu verhindern,
dass er auf Kopf oder Rücken fiel.
Pablo war schon zugange. Marielle war mit ihm, einem Deutschen und
einer Schweizerin an einem nicht sehr hohen Brocken, der es allerdings gehörig
in sich hatte: Zur Problemstellung gehörte, dass man aus der Sitzposition am
Boden in die überhängende Zone hineinzuklettern begann – ein absolut
akrobatisches Unterfangen, das extreme Kletterbewegungen verlangte und enorm
viel Fingerkraft erforderte. Pablo kämpfte.
Sie glaubte nicht daran, dass sie es schaffen würde, wenn sie
nachher an der Reihe wäre. Das spielte aber auch gar keine Rolle. Sie kam nicht
mehr an die Reihe …
*
Tinhofers Frau hatte nie aufgehört, sich Sorgen um ihren Mann zu
machen.
Früher, als er noch für die Zeitungen gearbeitet hatte, Tag und
Nacht unterwegs war, bisweilen länger nicht nach Hause kam, da hatte sie kaum
Schlaf gefunden, hatte sich unruhig im Bett hin-und hergewälzt, war von
schlechten Träumen geplagt worden und war nie die Angst losgeworden, dass ihm
irgendetwas passieren könnte, ein Unfall mit dem Auto zum Beispiel. Diese Angst
hatte nachgelassen, als er mit sechzig den aufreibenden Fotografenjob an den
Nagel gehängt und sich fortan nur mehr der Landschafts-, der Natur-und der
Bergfotografie gewidmet hatte. Doch noch immer war sie beunruhigt, wenn er, so
wie jetzt, wieder ins Gebirge aufbrach, ganz allein, mit einem kleinen Zelt,
notdürftigem Proviant, dafür großer Kameraausrüstung …
Niemand weiß, wo er ist, dachte sie. Wenn er stürzt und sich
ernsthaft verletzt, findet ihn so schnell niemand. Oder wenn er einen
Herzinfarkt bekäme.
Früher war sie des Öfteren mit ihm aufgebrochen, aber seit das mit
ihrer Hüfte begonnen hatte und mit den Jahren immer schlimmer geworden war …
Der Arzt empfahl ihr seit Langem eine Operation – »Heutzutage ist das Einsetzen
eines künstlichen Hüftgelenks wirklich gar keine so große Sache mehr« –, doch
sie hatte sich bislang nicht dazu durchringen können. Die Schmerzen waren
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