Glockengeläut
uns selbst, die wir in die Welt um uns projiziert haben. Sie sind die kleinen Kinder, die an die Fensterscheibe klopfen ...«
So dient die ghost story einer Erkenntnis, die Aickman weit höher schätzt als allen wissenschaftlichen Fortschritt: der Einsicht in unsere innere Lebenswelt. Die Wahrheit, die dort liegt, »kann nur durch Imagination gefunden werden, und wessen Imagination durch Antworten eingeengt ist, wird sie niemals finden«.
Damit allerdings enden auch die Korrespondenzen der ghost story mit Freuds Psychoanalyse, denn diese versteht sich ja als wissenschaftliche Methode - und wenn sie Traumbilder erweckt, dann nur, um sie methodisch zu analysieren, sie als Vergangenheit zu erkennen, von der sich das Ich, indem es das Vergangene/Verdrängte ins Bewußtsein zurückholt, befreien kann. Dagegen geht es Aickmans ghost stories darum, die unabhängige Existenz der ›neun Zehntel‹ jenseits aller vernunftmäßig reglementierten Alltagswelt zu demonstrieren, ja, ihr Primat zu zeigen.
Wer den Versuch unternimmt, das dichte ›psychische‹ Geflecht der Erzählungen Aickmans aufzulösen, wird zwangsläufig scheitern - denn diese Erzählungen sind gegen die Gesetze der Logik geschrieben, und Aickman selbst würde es »nicht im Traum einfallen zu sagen, warum etwas in einer Geschichte geschieht«. Eben hieraus beziehen seine Geschichten ihre irritierende, zuweilen sogar verstörende Wirkung. Durch die Ebene der Bewußtheit stoßen die erratischen Felsen des Irrationalen, und die Helden seiner Erzählungen werden hilflos-ohnmächtig Opfer undurchschaubarer, gleichwohl unerbittlich ablaufender Vorgänge. Andere, stärkere Kausalketten als die rationaler Induktion und Deduktion entfalten hier ihre Wirksamkeit, stürzen in Angst und Schrecken. Das erzählerische Abtauchen in Dämmer und Dunkel der ›Unvernunft‹ enthebt Aickman denn auch der Kunst und Literatur traditionell zugeschriebenen Aufgabe der Sinnstiftung. Aickman zufolge sind die besten ghost stories gerade die, welche den »Mantel der Moral«, mit dem sich der Mensch, »nackt im feindlichen Hochland«, schütze, in »einem einzigen Schwefelbrand verbrennen«. In der ghost story erwachen die von der Vernunft geleugneten Ungeheuer und beginnen ihr zerstörerisches Spiel.
In »Glockengeläut« sind es die auferstandenen Toten, die das Eheglück der Jungvermählten für immer vernichten. Die junge Frau, die sich in den Totentanz ziehen läßt, der um viele Jahre ältere Mann, der sie dunklen Mächten preisgeben muß - zwischen ihnen entsteht eine unaufhebbare Fremdheit. Und angesichts der Ausgeburten einer Welt des Wahnsinns entpuppt sich das Repertoire zivilisatorischer Höflichkeiten und Verhaltensmuster als nutzloser Apparat. Verstörend wirkt diese Erzählung nicht zuletzt deshalb, weil sie die Liebe des Paares (offenbar Aickmans Eltern nachgebildet) in ihrer ganzen Kraftlosigkeit entlarvt. Die pompöse Rolle zärtlich sich Liebender, die Phrynne und Gerald sich zumessen, zerbricht im Angesicht des Todes und der wiedererwachten Toten, die schließlich nach infernalischem Glockengeläut durch Holihaven ziehen.
Steht diese Erzählung, die 1955 Aickmans Durchbruch als Genreautor markierte, noch ganz in der Tradition der klassischen Gespenstergeschichte, die phantastische Phänomene innerhalb einer fiktionalen Welt als objektive Realitäten vorstellt und sich dabei bestimmter, wiederkehrender Motive -etwa Vampire und Doppelgänger, Untote und Werwölfe -bedient, so führt die weitere Entwicklung des Schriftstellers zu dem, was Peter Penzoldt (bezogen auf Walter de Ia Mare) 1952 die »inconclusive story« nannte - zu einer offenen, latent alogischen Form, bei der das Unheimliche, stets präsent am Saum des Bewußtseins, erzählerisch nur impliziert ist, sich aber selten direkt manifestiert, und wenn doch, dann in Symbolen. Die abgenutzten Archetypen des Phantastischen, Schöpfungen vergangener Jahrhunderte, konturieren sich nurmehr schwach im Hintergrund oder aber sie gewinnen, wo sie denn im Vordergrund erscheinen, moderne Konkretion als Symbole eines zeitgenössischen Unbewußten. Somit besteht die - kaum zu überschätzende - Leistung Aickmans augenscheinlich darin, die Stagnation der ghost story nach M. R. James überwunden zu haben durch subtile Erschließung der psychischen Tiefen und ihrer Schrecken: der personalen Schrecken des 20. Jahrhunderts, die freilich oft von sehr handfesten Bedrängungen, von ekelhaften Gerüchen, Lärm oder Überhitzung
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