Glockenklang von Campanile
vorbei sein würde, sobald sie sich das notwendige Wissen angeeignet hatte. Aber sie besaß kein ausgeprägtes Talent für Sprachen, und das Lernen fiel ihr schwer. Oft hatte sie das Gefühl, im Morast zu versinken, ohne Hoffnung auf Flucht. Die Wände ihres Heims erschienen ihr zunehmend wie ein Gefängnis.
Schlimmer war noch, dass alle annahmen, sie hätte eine Unmenge Zeit. Sie arbeitete ja nicht. Jeder kam vorbei, wenn ihm danach war, und drückte sein Erstaunen aus, dass sie ihn nicht besuchte. Wenda, Ruggieros Frau, vertraute Sonia an, wie sehr sie Venedig liebte, weil es sie an ihr Heimatdorf in Jamaika erinnerte.
Sonia reagierte verblüfft, und Wenda erklärte: “Es ist klein und überschaubar, man kann überall zu Fuß hingehen, und die Menschen sind zu jedem freundlich.”
Giovanna kam ständig vorbei, scheinbar, um mit ihr zu reden. Sonia konnte sich jedoch nicht des Gefühls erwehren, dass die Schwiegermutter mit ihren scharfen Adleraugen nach hausfraulichen Versäumnissen suchte. Nicht, dass sie sie offen kritisierte, aber ihre Hilfsangebote erschienen Sonia wie versteckte Kritik.
Giovanna hatte sich sogar bemüht, ein wenig Englisch zu lernen, etwas, was sie für ihre anderen Schwiegertöchter nie getan hatte. Sonia war inzwischen so empfindlich geworden, dass sie es als den Gipfel der Beleidigung empfand.
“Sie versucht nur nett zu sein”, hatte Francesco argumentiert. “In ihrem Alter ist es bestimmt nicht mehr so leicht, eine neue Sprache zu lernen. Aber sie möchte sich mit dir unterhalten können.”
“Meinst du wirklich? Oder will sie einfach nur unterstreichen, wie unbegabt ich in dieser Hinsicht bin? Sie kann in ihrem Alter eine neue Sprache lernen, ich aber bin dazu nicht in der Lage. Das soll es wohl ausdrücken.”
“Bestimmt nicht. Wir alle wissen, Englisch ist wegen seiner einfachen Grammatik leichter zu lernen.”
“Warum hat sie es denn nicht Wendas wegen gelernt, sondern gewartet, bis Wenda Italienisch und Venezianisch gelernt hatte? Weil Wenda leicht Sprachen lernen kann und ich nicht.”
Wenn Giovanna Sonia zufällig beim Lernen antraf, sah sie sich betont aufmerksam nach Hausarbeiten um, die nicht erledigt worden waren, und kümmerte sich prompt darum. Schon bald konnte sie sich gut genug ausdrücken und erklärte Sonia, sie solle lernen und ihr die Hausarbeit überlassen. Sonia hatte dabei immer irgendwie das Gefühl, ein unbestimmtes Verbrechen begangen zu haben.
“Sie arrangiert selbst das Geschirr neu”, beschwerte sie sich bei Francesco. “Sie wäscht ab, dann stellt sie die Sachen dahin, wo sie es will.”
“Mach dir nichts draus”, versuchte Francesco sie zu beschwichtigen. “Sie stellt es wieder so hin, wie es vorher immer bei mir stand.”
“Und wer entschied, wie du es haben wolltest?”
Er grinste reumütig. “
Mamma.”
“Genau. Niemand darf sich erlauben, anderer Meinung zu sein als sie.”
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. “Komm, wir wollen uns nicht meiner Mutter wegen streiten …”, bat er.
Erst später begriff sie, dass diese Bitte eine Warnung enthalten hatte.
Sonia hatte viel an Giovanna auszusetzen gehabt, aber über eine Begebenheit ärgerte sie sich bis heute: Giovanna hatte sie nie mit ihrem richtigen Vornamen angesprochen.
Es begann an dem Tag vor der Hochzeit. Giovanna hatte die Gelegenheit, ihren Pass zu sehen, in dem ihr voller Name stand. Sonia Maria Crawford.
“Maria”, hatte sie da verwundert gesagt. Dann, als hätte sie etwas Bedeutsames entdeckt: “Maria!”
“Nein, Sonia”, widersprach Sonia sofort und wiederholte ausdrücklich: “Sonia.”
Es half nichts. Wenn sie beide allein miteinander waren, nannte Giovanna sie stur Maria. Im Grunde war es eine Lappalie, aber es verstärkte Sonias Gefühl, wie ein Fisch auf dem Trockenen zu liegen. Diese Familie schien entschlossen, sie mit Haut und Haaren zu schlucken, und das ging so weit, dass sie ihr nicht einmal gestattete, ihren eigenen Namen weiterzuführen.
Als sie Francesco davon erzählte, reagierte er perplex.
“Ich habe nie gehört, dass sie dich Maria genannt hat.”
“Sie tut es auch nur, wenn kein anderer dabei ist. Warum, frage ich dich?”
Sein Versuch, mit der Mutter darüber zu sprechen, war nach hinten losgegangen. Giovanna wurde puterrot im Gesicht, ratterte irgendetwas auf Venezianisch herunter und stürmte wütend aus dem Zimmer. Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss.
“Sie hat gesagt, sie wüsste gar nicht,
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