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Gloriana

Gloriana

Titel: Gloriana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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schüttelt kleine Eiszapfen aus seinem dunklen Bart, grunzt vor Vergnügen über den Anblick seines Heimathafens in seiner stolzen, gefrorenen Herrlichkeit; seiner zeitweiligen Ruhe.

    DAS ZWEITE KAPITEL

    Königin Gloriana beginnt den ersten Tag des neuen Jahres, empfängt Höflinge und erfährt von gewissen beunruhigenden Angelegenheiten

    Aus weißen Laken und Federbetten sich aufrichtend, streckte Königin Gloriana eine ringgeschmückte, blasse Hand aus, schob Bettvorhänge aus gebleichter Seide zurück, fuhr in ihre bestickten Pantoffeln und ging zum Fenster, raschelnd in ihrem langen elfenbeinfarbenen Nachthemd mit der silberdurchwirkten Spitze, das Haar in einer schlichten Leinenkappe. Albinopfauen bewegten sich mit zögernden Schritten am Rand der verschneiten Rasenfläche unter den zugeschnittenen Buchsbaumhecken, die an diesem Wintermorgen wie aus Marmor waren. Noch immer sanken feine Flocken herab, die dreizehigen Fährten der Vögel zuzudecken, aber der milchige Himmel hellte sich auf, und im Westen war sogar eine Spur von ausgewaschenem Blau zu sehen. Sie wandte sich um, als ihre Ehrendame, Mary Perrott, in Begleitung einer Zofe hereinkam, die das Frühstückstablett mit seiner schweren Silberlast trug. »Ihr seid sehr hübsch heute morgen, Mary, gute Farbe. Fraulich. Aber ein wenig müde, scheint mir.«
    Lady Mary gähnte bekräftigend. »Die Festlichkeiten …«
    »Ich fürchte, ich verließ den Maskenball diesmal ein wenig frühzeitig. Wie gefiel es Eurem Vater? Und Euren Brüdern und Schwestern? Waren die Unterhaltungskünstler amüsant?« Sie stellte die Fragen schnell hintereinander, so daß keine beantwortet werden mußte.
    »Es war ein ganz und gar gelungenes Fest, Euer Majestät.« Gloriana setzte sich an den feingearbeiteten Tisch, hob die Deckeln von den Schüsseln und entschied sich für Nieren und Kalbsbries. »Ein kalter Tag. Eßt Ihr genug, Mary?«
    Als ihre Herrin sich über das Frühstück hermachte, schien Mary Perrott leise zu erschauern, und Gloriana, die es bemerkte, winkte mit der Gabel. »Geht zu Bett und schlaft noch eine oder zwei Stunden. Ich werde Euch nicht brauchen. Aber legt vorher noch ein paar Scheite ins Feuer und bringt mir den Hermelinumhang. Das ist ein neues Kleid, wie? Roter Samt steht Euch, Mary. Aber die Taille scheint zu eng geschnürt.« Lady Mary errötete, als sie sich zum Feuer beugte. »Ich hatte mir vorgenommen, es zu ändern, Madame.« Sie ging hinaus, kam mit dem Hermelinumhang zurück und legte ihn der Herrin um die Schultern. »Ich danke Euch, Madame. Zwei Stunden?« Gloriana lächelte und zog die Platte mit den Heringen heran. »Besucht keinen Liebhaber und laßt Euch von keinem besuchen, Mary, sondern schlaft. So werdet Ihr in der Lage sein, alle Eure Pflichten zu erfüllen.«
    »Das werde ich tun, Madame.« Mit einem Knicks schlüpfte Lady Mary aus dem nüchternen Zimmer der Königin. Gloriana fand, daß die Heringe nicht nach ihrem Geschmack waren, und stand unvermittelt auf. Sie wandte sich dem Wandspiegel neben der Tür zu, dankbar für die unerwartete Ungestörtheit. Sie musterte ihr schmales, vollkommenes Gesicht, ihre feingliedrigen Hände. Ihre großen, grünblauen Augen bewahrten einen Ausdruck von leiser, unpersönlicher Neugierde. Sie nahm die Leinenkappe vom Kopf und ließ das kastanienbraune Haar in Lockenkaskaden auf die Schultern herabfallen; sie warf den Hermelinumhang ab, entledigte sich des Nachthemdes und stand nackt. Sie maß nicht viel weniger als zwei Meter, hatte aber eine wohlproportionierte Gestalt und makellose Haut, obwohl sie in früherer Zeit wie mancher Baum mit einem Dutzend oder mehr Initialen gezeichnet worden war; seit ihrer Kindheit geschlagen mit allen nur denkbaren Gegenständen, gequält und geschunden: zuerst von ihrem Vater selbst oder von denjenigen, die sie in seinem Dienst entweder zu erziehen oder zu bestrafen hatten; dann von den Liebhabern, von denen sie gehofft hatte, sie möchten ihr zu der einzigen wichtigen Erfahrung verhelfen können, die ihr noch verschlossen blieb. Sie strich sich über die Hüften, nicht aus Narzißmus, sondern in Gedanken, beschäftigt mit der Frage, wie ein empfindsamer Körper gleich dem ihrigen sich ungeachtet aller Reizmittel weigern konnte, sie mit der befreienden Entspannung zu belohnen, die er den meisten gewährt, denen sie ihn geliehen hatte. Mit einem Seufzen legte sie Nachthemd und Umhang wieder an, gerade zur rechten Zeit, um ›Herein‹ zu rufen, als geklopft wurde.

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