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Glück, ich sehe dich anders

Glück, ich sehe dich anders

Titel: Glück, ich sehe dich anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Ahrens
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musste täglich regelmäßig inhalieren.
    Als sie schließlich wieder zu Hause war, erholte sie sich erstaunlich schnell. Endlich konnte sie alles essen und verdauen, und es ging ihr nach und nach besser. Sie machte auch sehr gute Fortschritte in ihrer Entwicklung.
    Die Behinderung von Louise, welche man ihr ansehen konnte, gehörte mittlerweile zu unserem Leben dazu. Mit Loreens Behinderung dagegen, die zunächst nicht ersichtlich gewesen und uns so unvorbereitet mitgeteilt worden war, kamen wir nicht gut zurecht. »Die ist aber klein!«, sagte man mir, wenn ich auf die Frage, wie alt sie denn sei, geantwortet hatte.
    Loreen war bereits über ein Jahr alt, sah aber aus wie ein Kind im Alter von gerade einmal sechs Monaten. Manche Leute, die wir nur flüchtig kannten, gratulierten mir zur Geburt, wenn sie mich mit ihr sahen. Loreen war so klein, dass ich sie beim Bummel durch meine Heimatstadt Heide häufig in der Babyautoschale trug. Es fiel mir schwer zu sagen: »Meine größere Tochter hat ein Down-Syndrom, und ihre Schwester ist auch behindert. Sie sind beide behindert.« Oft habe ich Loreens wahres Alter um einiges verringert. Dann brauchte ich mir die kränkenden Äußerungen nicht anzuhören. Obwohl diese Leute ja meist nichts Boshaftes im Sinn hatten. Sie stellten ja einfach nur fest, dass Loreen klein war. Andere Kinder waren doch auch klein. Ich jedoch interpretierte es so, dass ich daran schuld war, dass sie zu klein war, ich war schuld, dass sie auch behindert war.
    Ich hatte das Gefühl, sämtliche Menschen in meiner Umgebung gingen oberflächlich mit uns um. Ich hatte mir immer seelische Unterstützung erhofft, wollte über die beiden Kinder, ihre Behinderungen und ganz besonders die gesundheitlichen Probleme, die nach und nach hinzukamen, reden. Und ich hatte Angst vor der Zukunft. Ich musste doch so viel verarbeiten und wollte daher in der ersten Zeit immerzu davon reden. Ich konnte nicht abschalten. Diese beiden Behinderungen veränderten sofort nach der Diagnosestellung unser Leben. Ich bekam aber immer nur zu hören: »Das wird schon. Andere Kinder können dieses und jenes auch nicht. Sind doch so niedlich, die beiden. Ihr dürft euch nicht abkapseln und euch da nicht so hineinsteigern.« Es war vielleicht auf der einen Seite gut gemeint, denn mit diesen Äußerungen wollten sie uns sicherlich nur trösten und alles ganz »normal« erscheinen lassen. Aber nichts war »normal«. Wie konnten die anderen den Tatsachen nur so entfliehen?
    Wenn ich genervt war von allem – von der Krankengymnastik, der Frühförderung, den ständig wiederkehrenden ärztlichen Kontrolluntersuchungen und Klinikbesuchen – und irgendjemand mir noch unangemeldet einen Besuch abstatten wollte, war mir das zu viel. Doch einige Menschen verstanden es nicht, dass ich nach solch anstrengenden Tagen keine Lust auf deren heile Welt hatte. Sie wollten mich womöglich nur ablenken und meinen Kummer lindern. Ich aber redete mir ein, dass sie mich nicht verstanden. Kindergeburtstage von gesunden Kindern zum Beispiel mied ich zeitweise, weil ich gekränkt war, dort nur gesunde Mädchen und Jungen zu sehen. Überhaupt hatte ich in dieser Zeit keine Freude mehr an Feiern, Unternehmungen mit der Familie oder Treffen mit Freunden. Ich beschäftigte mich mit mir selbst und meiner kleinen Familie. Und es war mir wichtig, unser Leben ganz nach unseren Wünschen und Bedürfnissen auszurichten. Wir hatten schließlich die Diagnose von Loreens Behinderung noch gar nicht verkraftet, geschweige denn verarbeitet. Ich öffnete an manchen Tagen nicht einmal mehr die Tür, wenn es klingelte, und ging auch nicht mehr ans Telefon.
    Eines Abends kam ich mit Loreen vom Kinderarzt zurück. Sie hatte wieder eine ärztliche Kontrolle wegen ihrer nächtlichen Schreiattacken gehabt. Der Arzt hatte mir gesagt, dass sie sehr starke Wahrnehmungsstörungen habe und die Entwicklung ihrer Beine nicht ganz in Ordnung sei. Als ich zur Haustür hereinkam, hörte ich bereits, dass wir gerade einen unangemeldeten Besuch in unserem Wohnzimmer hatten. Dabei wollte ich mit meinem Mann in Ruhe über die gesundheitlichen Probleme von Loreen sprechen. Doch das war jetzt nicht möglich. Nach einer Weile konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und brüllte den ganzen Frust, der sich über Wochen angestaut hatte und auf meine Seele drückte, aus mir heraus. Ich wollte allen zu verstehen geben, dass ich dieses Leben nicht mehr ertragen konnte. Zuerst bekamen wir ein geistig

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