Glück, ich sehe dich anders
behindertes Kind, das größter Fürsorge und Förderung bedurfte, immer wieder körperliche Leiden hatte und sich ständig erbrach, ein Arztbesuch folgte dem anderen, nebenbei der schon alltägliche Ärger mit den Behörden, dann die Freude auf das zweite Kind, angeblich war alles in Ordnung, doch auf einmal ein Herzfehler, wieder eine Diagnose auf eine geistige Behinderung und alles von vorn, Förderungsmaßnahmen, ärztliche Kontrollen, Behördenärger, die anhaltenden Schreiattacken und immer wieder neue Probleme, bei denen einem keiner hilft, denn was bekommt man stattdessen zu hören? »Das wird schon, andere Kinder sind auch …«
Ich musste mir Luft machen, und es war mir völlig gleichgültig, wer meine Wut abbekam. Ich konnte nicht anders. Ich schrie meinen Mann und den Besuch an, dass ich mir immer von allen Verständnis erhofft hätte und gutes Zureden. Aber die meisten würden doch bloß wollen, dass wir uns nicht aufregten, wir sollten »normal« leben und unsere Kinder als »ganz normal« betrachten und nicht immer so einen Aufstand machen.
Natürlich wusste ich, dass sich manche auch Sorgen machten, weil wir uns abkapselten, und sie deshalb sagten, ich dürfe mich nicht immer mit anderen Behinderten beschäftigen. Ich solle mich lieber mit den »Normalen« abgeben, dann würde ich auch nicht ständig mit diesem Leid konfrontiert. Andere wieder behaupteten sogar, wir würden unsere Kinder als wandernde Katastrophen betrachten.
Ich hatte den Eindruck, diese Menschen verstanden nicht, dass es mir half, mich mit anderen Eltern behinderter Kinder zu treffen, über alles reden und mich austauschen zu können. Ich hatte doch so viele Fragen. Eltern mit größeren behinderten Kindern hatten schon ihre Erfahrungen gemacht und konnten mir Hilfe und Trost geben. Sie erzählten offen, wie sie sich gefühlt hatten, als ihr Kind auf die Welt gekommen war, oder wie die Reaktionen von Familie, Freunden und Bekannten gewesen waren. Menschen, die keine Behinderten in ihrem Umfeld haben, wissen nicht, welche Kraft es kostet, diese Kinder großzuziehen, und dass man das Bedürfnis hat, immer wieder darüber zu sprechen, um es zu verarbeiten. Und mit dem Heranwachsen der Kinder würden die Probleme schließlich noch zunehmen. Ich wollte niemandem einen Vorwurf machen, weil er sich in unsere Lage nicht hineinversetzen konnte, aber war es zu viel verlangt, etwas Verständnis für unsere Situation zu erwarten?
Ständig musste ich mir Vergleiche anhören. »Früher hatte man viele Kinder und musste dabei auch noch auf dem Feld ackern …« Mir wurde der Vorwurf gemacht – oder zumindest empfand ich es als solchen -, Loreen würde so viel schreien, weil ich selbst oft so unruhig sei. Ich solle mal etwas lockerer werden, denn meine Anspannung würde sich auf die Kinder übertragen. Und ich dürfe Louise nicht immer Loreen vorziehen.
Ich erkannte erst spät, dass die Menschen um mich herum es bloß gut mit mir meinten. Aber ich war zu empfindlich, um die Zwischentöne wahrzunehmen.
In der Stadt traf ich eine ehemalige Kollegin. Die bemerkte vorwurfsvoll: »Ich hätte mich nicht getraut, noch ein Kind in die Welt zu setzen, wenn das erste schon behindert ist. Warum hast du denn keine Fruchtwasseruntersuchung gemacht? Heutzutage kann man so was doch wegmachen lassen.«
Ich wusste keine Antwort. Wieder zweifelte ich an mir selbst. Ich kriegte anscheinend nichts hin außer zwei Kindern, die behindert auf die Welt gekommen waren. Dazu vielleicht noch Essen kochen, den Haushalt erledigen und die Therapien mit den Kindern absolvieren. Dabei raubten mir die Kinder und die Förderungen, all die Arztbesuche und die Formalitäten mit den Behörden meine Kräfte. Was bekam ich denn überhaupt in den Griff?
Immer habe ich versucht, mich zu rechtfertigen, aber jetzt kam ich dagegen nicht mehr an. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich mir sagen musste: »Schluss, sonst gehst du zugrunde! Deine Kinder und dein Mann sind dir wichtig, sonst nichts!«
Sätze wie »Der Mann ist zuständig für die Arbeit und den Garten und die Frau für den Haushalt und die Kinder!« nahm ich wahr, ärgerte mich aber nicht mehr darüber. Für mich war es selbstverständlich, in dieser besonderen Lebenssituation die Erziehung und Betreuung der Kinder als Eltern gemeinsam wahrzunehmen. Ich kümmerte mich von dieser Zeit an nur noch um meine eigenen Probleme und mein Umfeld. Ich spürte, wer es ernst mit uns meinte und wer nicht, und mir wurde immer
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