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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Reza
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erkannte. Umgeben von dieser Leidensgemeinschaft im Sonntagsstaat, die zum Rathaus eilte, um nicht nass zu werden, mit Odile am Arm, der ich über den rutschigen Vorplatz half, traf mich die Katastrophe der Gefühle. Diese Art Dummheit hatte ich bislang erfolgreich vermieden. Ich kenne ihren Mann, sie kennt die Frauen, die in meinem Leben kommen und gehen. Zwischen uns ging es nie um mehr als um sexuelle Zerstreuung. Ich dachte, Jungejunge, hast du da gerade einen Anfall von fading oder was, na, das geht vorbei. Im Rathaussaal sprach Odile vor dreihundert Personen, den Arbeitern und ihren Familien. Nach ihrem Beitrag wurde sie beklatscht. Die Präsidentin der Opfervereinigung sagte zu ihr, gerade hast du drei Autobusse für die Demo am Donnerstag vollgekriegt. Odile flüsterte mir ins Ohr, eigentlich bin ich wie gemacht für die Politik. Ihr Gesicht war stark gerötet, beinahe hätte ich ge­­antwortet, dass die Politik mehr Kaltblütigkeit erfordert, aber ich sagte nichts. Wir wechselten vom Versammlungssaal in einen anderen Saal, wo das Staatsbankett stattfand.Um drei Uhr nachmittags waren wir immer noch beim Aperitif-Sekt. Eine pummelige Frau um die sechzig im Plissee­rock dirigierte den Service. Die Musikanlage musste in den Neunzigern der letzte Schrei gewesen sein. Ich lernte einen ehemaligen Metallgießer kennen, einen Typen mit Rippenfellkrebs. Er erzählte mir sein Leben, von den zersägten Wellblechen, den gegossenen Rohren, die ohne Schutz mit Sandpapier abgeschmirgelt wurden. Das Asbestzimmer, der Staub. Er sagte zu mir, wir bekamen den Asbest in Fässern geliefert und spielten damit, als wäre es Schnee. Odile tanzte mit ein paar Witwen Madison (sie nannte das Madison, ich kenne mich beim Tanzen nicht aus) und eine Art Tango mit Männern, die Sauerstoffflaschen umgeschnallt hatten. Eine Frau rief ihr zu, Odile, deine Haare sehen aus wie eine Harke, lass dir lieber mal eine Dauerwelle machen ! Ich dachte, da haben wir das wahre Leben, Tische auf Böcken, Brüderlichkeit, Staub, Odile Toscano, die in einem Festsaal tanzt. Ich dachte, das hättest du aus deinem Leben machen sollen, Rémi, Bürgermeister von Wandermines im Nord-Pas-de-Calais werden, Kirche, Fabrik, Friedhof. Dann wurde in großen Schmortöpfen Coq au Vin hereingetragen. Mein Kumpel sagte, auf dem Friedhof lägen mehr Tote aus der jüngeren Vergangenheit, als die Gemeinde Einwohner habe. Er sagte, wir kämpfen. Ich dachte, was für ein starkes Wort. Er sagte, als mein Bruder starb, ließ ich Die Zeit der Kirschen singen. Mein Kopf stand kurz vorm Platzen. Und am Ende des Tages setzte ich mich ans Steuer, um nach Douai zu flitzen, aber ich war genauso voll wie Odile. Im Zimmer kippte Odile gleich aufs Bett. Sie sagte, ich bin ein Wrack, Rémi, in dem Zustand kann ich die Kinder nicht anrufen, hast du ein Aspirin ? – Ich hab was Besseres. Und ich nahm ein Cognacfläschchen aus der Minibar. Ich war genauso ein Wrack, und die Verwirrung hielt an. Wie sie sich da ausstreckte, ein Kissen unter ihren Kopf knüllte, sich den Schluck Cognac reinkippte. Ihr Lachen, ihr müdes Gesicht. Ich dachte, sie gehört mir. Meine kleine Frau Rechtsanwältin Toscano. Ich legte mich auf sie, küsste sie, zog sie aus, wir liebten uns trotz Kater, und es war genau die richtige Dosis Schmerz. Gegen zehn Uhr abends bekamen wir Hunger. Das Hotel nannte uns ein Restaurant, das noch offen war. Wir irrten durch Douai, bis wir es gefunden hatten. Wir liefen an einem Fluss entlang, Odile sagte, das sei die Scarpe, ich weiß nicht, warum ich diesen Namen behalten habe, sie erzählte mir noch mehr über die Gebäude und zeigte mir den Justizpalast. Wir gingen durch Wind und Nieselregen, aber mir gefiel die undurchdringliche Stimmung, die Stille, sogar die komischen Laternen, ich war bereit, mich dort niederzulassen. Odile marschierte tapfer mit ihrer von der Kälte angeschwollenen Nase weiter. Ich hatte Lust, den Arm um sie zu legen, sie an mich zu drücken, aber ich blieb brav. Diese Art Dummheit hatten wir bislang erfolgreich vermieden. Im Restaurant bestellten wir Gemüsesuppe und Beinschinken. Odile wollte einen Tee, ich ein Bier. Sie sagte, du solltest keinen Alkohol mehr trinken. Ich sagte, das ist lieb, wie du dich um mich kümmerst. Sie lächelte. Ich sagte, diese Leute haben mich beeindruckt. Ich führe das Leben eines Idioten. Ich komme nur mit Dünnschiss-​Idioten zusammen. – Tja, sagte sie, nicht jeder hat das Glück, in einem Erzbecken auf die Welt zu

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