Glücklich die Glücklichen
kommen. – Du beeindruckst mich auch. – Ah, endlich !, sagte Odile und machte eine auffordernde Bewegung, bitte genauer. – Du bist engagiert, solidarisch, stark. Du bist schön. – Rémi ? Hallo ? Geht’s noch ? – Nein, glaub mir, du kämpfst mit ihnen, für sie. – Das ist mein Beruf. – Den könntest du auch anders machen. Distanzierter. Die Arbeiter lieben dich. Odile lachte (ich sagte ja schon, ich liebe ihr Lachen). – Die Arbeiter lieben mich ! Das Volk liebt mich, siehst du, ich sollte wirklich in die Politik gehen. Und du, mein armer Schatz, du wirst heute Nacht gut schlafen. – Du solltest nicht lachen. Ich meine es ernst. Wie du getanzt und die Teller abgeräumt hast und dann deine tröstenden Worte: du hast diesen Tag verzaubert. – Hat diese Hose nicht wie eine Wurstpelle an mir ausgesehen ? – Nein. – Findest du auch, meine Frisur sieht aus wie eine Harke ? – Ja. Aber sie gefällt mir besser als der kleine Helm von heute Morgen. Plötzlich fiel mir ein, morgen sind wir wieder in Paris. Morgen Abend wird Odile bei sich zu Hause in ihrer gemütlichen Blase sein, bei ihren Kindern und ihrem Gatten. Und ich weiß der Teufel wo. Normalerweise ist das auch belanglos, aber da die Dinge einen Dreh ins Unnormale bekommen hatten, dachte ich, halte dir mal lieber den Rücken frei, Alter. Also holte ich mein Handy aus der Tasche, sagte zu Odile, entschuldige kurz, und suchte die Nummer von Loula Moreno. Sie ist schön, sie ist witzig, sie ist verzweifelt. Genau, was ich jetzt brauche. Ich schrieb: »Morgen Abend schon was vor ?« Odile pustete auf ihre Suppe. Ich spürte, wie mich eine Art Panik überfiel. Eine Angst, verlassen zu werden. Als Kind ließen mich meine Eltern oft bei anderen Leuten. Ich blieb dann unbeweglich im Dunkeln sitzen, immer kleiner und kleiner. Das Handy leuchtete auf, und ich las: »Morgen Abend noch nichts vor, mein Engel, aber du musst nach Klosterneuburg kommen.« Da fiel mir ein, dass Loula gerade einen Film in Österreich drehte. Wen gab es noch ? – Alles in Ordnung ?, fragte Odile. – Bestens, sagte ich. – Du wirkst verstimmt. – Ein Kunde, der einen Termin verschieben will, nichts Besonderes. Und dann setzte ich eine gleichgültige Miene auf und ließ ein Was-machst-du-morgen-Abend fallen. – Wir feiern den Siebzigsten meiner Mutter, sagte Odile. – Bei euch ? – Nein, bei meinen Eltern in Boulogne. Es tut ihr gut, Gäste zu haben. Einzukaufen, für alle Leute zu kochen. Ich möchte nicht, dass sich meine Eltern im Trübsinn vergraben. – Unternehmen sie nichts ? – Mein Vater war Generalinspekteur für Finanzen, er hat zu Raymond Barres persönlichem Mitarbeiterstab gehört, als der Premier war, dann hat er die Wurmster-Bank geleitet. Ernest Blot, sagt dir das was ? – Vage. – Er musste wegen Herzproblemen eine Pause einlegen. Jetzt ist er Aufsichtsratsvorsitzender, aber ehrenamtlich. Er macht ein bisschen Vereinsarbeit, tritt auf der Stelle. Meine Mutter: nichts. Sie fühlt sich allein. Mein Vater ist widerlich. Sie hätten sich längst trennen sollen. Odile trank ihren Tee aus, fischte die Zitronenscheibe vom Grund der Tasse und entfernte den Streifen Schale. Gefühlsverwirrung führt unter anderem dazu, dass nichts mehr glattgeht. Alles wird zum Zeichen, alles will dechiffriert werden. Ich war so wahnsinnig, mir einzubilden, ihre letzten Worte enthielten eine Botschaft, und fragte, habt ihr schon mal daran gedacht, euch zu trennen, dein Mann und du ? Sofort danach hielt ich ihr beide Hände vors Gesicht und sagte, nein, egal, vergiss das, es ist mir völlig egal. Als ich die Hände wieder wegnahm, sagte Odile, er denkt bestimmt jeden Tag daran, ich bin schrecklich. – Klar, ganz sicher, sagte ich. – Robert ist auch schrecklich, aber er schafft es immer wieder, dass ich dabeibleibe, sagte sie und schluckte die Zitrone runter. Es gefiel mir nicht, dass sie dasselbe nichtssagende Adjektiv für sie beide gebraucht hatte, es gefiel mir nicht, dass sie Robert sagte, dass der Name Robert in das Gespräch einbrach. Es ärgerte mich, dass sie mir einen Einblick in ihr Leben gab, das mir egal ist in seiner Belanglosigkeit. Es ist eine Dummheit zu glauben, Gefühle brächten einen näher, im Gegenteil, sie bekräftigen die Distanz zwischen den Menschen. Den Tag über hatte Odile mit all ihrem Temperament, im Regen, auf dem Podium mit ihrem Mikro, im Auto, im Zimmer mit den vorgezogenen Vorhängen, stets erreichbar gewirkt, auf
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