Glücklich die Glücklichen
war das ziemlich wurscht, weißt du ! Es gibt Menschen, deren Jugendgesicht man sich nach einer Zeit nicht mehr vorstellen kann. Es ist über die Jahre verblasst. Bei anderen ist es das Gegenteil, man meint, ihre Gesichter leuchten auf wie die kleiner Kinder. Das sehe ich in der Klinik mit den Schwerkranken. Und bei meiner kleinen Marie-Paule auch. – War Raymond gesprächig ? Sie überlegt, dann sagt sie, nein, nicht besonders. Ein Mann braucht nicht gesprächig zu sein. – Da hast du recht, sage ich. Sie wickelt einen Wollfaden um ihre Finger, ich bin schon noch richtig im Kopf, weißt du. – Das weiß ich, dass du richtig im Kopf bist, und ich hätte auch gern deine Meinung zu einer wichtigen Frage. – Einverstanden, sagt sie. Möchtest du einen Orangensaft ? Ich sage, nein danke. Also, pass auf. Du weißt noch, dass ich Sprechstundenhilfe bin ? – Du bist Sprechstundenhilfe, ja, ja, ja. – Ich arbeite in einer Klinik bei zwei Krebsspezialisten. – Ja, ja, ja. – Da gibt es eine Patientin von Dr. Chemla, in deinem Alter, die kommt immer in Begleitung ihres Sohnes. – Ist der nett, sagt meine Großtante. – Er ist sehr nett. Umso mehr, als seine Mutter eine Nervensäge ist. Er ist alt. Könnte sogar sein, dass er vierzig ist. Aber ich mag Ältere gern. Mit Jungs in meinem Alter langweile ich mich. Neulich stand ich einmal mit ihm draußen, zusammen eine rauchen. Ehrlich gesagt war er mir schon seit einiger Zeit aufgefallen. Ich beschreib ihn mal: braune Haare, nicht sehr groß, sieht ein bisschen so aus wie der Schauspieler Joaquín Phoenix, aber nicht ganz so gut, kennst du den ? – Ein Spanier, sagt meine Großtante. – Ja ... na, egal. Also, wir rauchen da unter dem Vordach. Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Wir stehen da und rauchen und lächeln uns an. Ich versuche alles, damit meine Zigarette länger hält, aber ich bin vor ihm fertig. Da ich auf Arbeit bin, in meinem weißen Kittel, gibt es keinen Grund, da rumzutrödeln. Ich sage also zu ihm, bis später, und gehe ins Untergeschoss zurück. Im Lauf der Monate und der Arztbesuche wechsle ich ab und zu ein Wort mit ihm. Ich organisiere die Termine, ich besorge Adressen für Anschlussbehandlungen. Eines Tages bringt seine Mutter mir Pralinen mit und sagt, Vincent hat sie ausgesucht, ein anderes Mal sehe ich ihn vor einem Fahrstuhl stehen, der nicht kommt, und zeige ihm den Personalaufzug, na ja, solche kleinen Dinge. An den Tagen, wenn Zawada auf dem Plan steht (so heißen sie), freue ich mich und schminke mich besonders sorgfältig. – Willst du ein Glas Orangensaft ?, fragt meine Großtante. – Nein danke. Er heißt Vincent Zawada. Findest du den Namen nicht schön ? – O ja, sagt meine Großtante. – Im Moment ist es traumhaft. Sie kommen jede Woche, weil sie Bestrahlung kriegt. Montag standen wir wieder unter dem Vordach zum Rauchen, er und ich. Diesmal kam ich später dazu. Er ist wie Raymond. Kein bisschen gesprächig. Meine Großtante nickt. Sie hört mir brav zu, die Hände übereinander im Schoß. Ab und zu schaut sie nach draußen. Direkt vor ihrem Fenster stehen zwei Pappeln, die die Gebäude gegenüber zum Teil verdecken. Und dann, sage ich, hab ich meinen Mut zusammengenommen und mich getraut, ihn zu fragen, was er beruflich macht. Verstehst du, das ist ja schon seltsam, wenn ein Mann ständig tagsüber Zeit hat. Meine Großtante sagt, ja, allerdings. Sie reißt ihre nachtblauen Augen auf. Sie kann ohne Brille einen Faden in das Öhr einer kleinen Nadel fädeln. – Er macht Musik, sage ich. Er ist Pianist, und er komponiert auch. Nach einer Weile ist er fertig mit seiner Zigarette. Und dann, anstatt zu seiner Mutter in den Warteraum zurückzukehren, bleibt er da – ohne Grund, denn wir sind gar nicht mehr im Gespräch. Er wartet auf mich. Er hat eigentlich keinen Grund, noch draußen zu bleiben, findest du nicht auch ? Meine Großtante schüttelt den Kopf. – Außerdem ist es kalt und fies draußen. Wir stehen da wie das erste Mal und lächeln uns an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich werde schüchtern bei diesem Mann, dabei bin ich normalerweise doch ziemlich unerschrocken. Als ich meine Zigarette aufgeraucht habe, schiebt er die Glastür für mich auf, um mir den Vortritt zu lassen (das bestätigt, dass er auf mich gewartet hat), und sagt zu mir, nehmen wir doch Ihren Aufzug. Wir hätten ja auch jeder einen anderen Aufzug nehmen können, oder er hätte einfach nichts sagen können, oder ? Nehmen
Weitere Kostenlose Bücher