Glücklich die Glücklichen
Lieder von Yves Montand. Als ich ihr Zimmer betrat, versuchte meine Großtante gerade, einen Kaktus zu gießen, wobei sie das Tischchen überschwemmte, alles begleitet von der Piaf, die blökte: »Ich gehe bis ans End der Welt / und färb mich blond, wenn’s dir gefällt / du musst es mir bloß sagen ...« Sofort drehte ich leiser und sagte, Marie-Paule, der Kaktus braucht nicht viel Wasser. Der da wohl, sagte meine Großtante, der liebt Wasser, hast du gerade die Hymne auf die Liebe abgestellt ? – Ich hab es nicht abgestellt, nur leiser gemacht. – Wie geht es dir, Liebes ? Oh la la, dass du mir bloß mit diesen Schuhen nicht auf die Nase fällst, die sind aber hoch ! – Nein, du wirst nur kleiner, Marie-Paule. – Na, ein Glück werd ich kleiner, du siehst ja, wo ich wohne ! »Ich leugne auch mein Vaterland / und meine Freunde, aus dem Stand / du musst es mir nur sagen ...« Ich stelle die Musik ab. Ich sage, die nervt mich. – Wer ?, sagt meine Großtante, Cora Vaucaire ? – Das ist nicht Cora Vaucaire, Marie-Paule, das ist Edith Piaf. – Ach woher, das ist Cora Vaucaire. Die Hymne auf die Liebe ist von Cora Vaucaire, ich bin ja wohl noch richtig im Kopf, sagt meine Großtante. – Bitte, wenn du willst. Aber was mich nervt, ist das Lied, ich kann Liebeslieder nicht leiden, sage ich. Je bekannter, je dümmer. Wenn ich Königin der Welt wäre, würde ich sie verbieten. Meine Großtante zuckt die Achseln. – Wie soll man wissen, was euch gefällt, der Jugend von heute. Möchtest du einen Orangensaft, Virginie ? Sie zeigt auf eine angebrochene Flasche, die tausend Jahre alt sein muss. Ich lehne dankend ab und sage, die Jugend von heute steht auf Liebeslieder. Alle Sänger bringen welche, ich bin die einzige, die das nervt. – Sobald du einen Jungen findest, der dir gefällt, wirst du deine Meinung ändern, sagt meine Großtante. Dreißig Sekunden, und sie hat’s wieder geschafft, mich zu ärgern. Genauso schnell wie meine Mutter. Das muss ein Wesenszug der Frauen in meiner Familie sein. Auf ihrem Nachttisch steht ein gerahmtes Foto von ihrem Mann mit Pfeife. Einmal zeigte sie mir die Kommodenschublade, die komplett ihm gewidmet ist. Sie hat alle seine Briefe aufgehoben, seine Nachrichten, seine kleinen Geschenke. Ich kann mich nicht genau an meinen Großonkel erinnern, ich war zu klein, als er starb. Ich setze mich hin. Ich lasse mich in den großen weichen Sessel fallen, der zuviel Platz einnimmt. Traurig, dieses Zimmer. Zuviel Zeug, zu viele Möbel. Aus meiner Tasche hole ich die Baumwollknäuel, die sie bestellt hat. Sofort räumt sie sie in einen Korb am Fußende des Betts. Dann setzt sie sich in den anderen Sessel und sagt, gut, dann erzähl mal ein bisschen. Wenn sie gerade richtig im Kopf ist, verstehe ich nicht, was sie allein in diesem Straflager zu suchen hat, fern von allem. Manchmal beim Telefonieren kommt es mir so vor, als hätte sie gerade geweint. Aber seit der Explosion des Reistellers weiß ich, dass meine Großtante immer weniger richtig im Kopf ist, wie sie es nennt. Beim letzten Mal, als meine Eltern und ich bei ihr zu Hause waren, hatte meine Großtante zwei Stunden vor dem Abendessen eine große Glasschüssel voll gekochten Reis vom Vorabend auf eine heiße Herdplatte gestellt. Die konnte heizen, wie sie wollte, an der Oberfläche blieb der Reis kalt. Meine Großtante ging hin, um ihn mit einem Pfannenspatel zu wenden, mit anderen Worten, sie verteilte ihn auf der Arbeitsplatte. Unmöglich, ihr einen Rat zu geben, man durfte ja nicht mal ins Zimmer kommen. Irgendwann ertappten wir sie durch den Türspalt dabei, wie sie die Unterarme im Reis versenkt hatte und ihn durchmengte, als wollte sie einen räudigen Hund shampoonieren. Um zwanzig Uhr explodierte die Schüssel und sprenkelte die Küche mit Reiskörnern und Glassplittern. Dieser Vorfall führte letztlich dazu, dass meine Eltern beschlossen, sie in ein Heim zu bringen. – Fandest du das gut, sage ich, dass Raymond Pfeife rauchte ? – Ach, hat er Pfeife geraucht ? – Auf dem Foto tut er das. – Ah, ab und zu hatte er so Allüren. Und ich konnte ja auch nicht alles kontrollieren, weißt du. Wann heiratest du denn, meine Kleine ? – Ich bin fünfundzwanzig, Marie-Paule, sage ich, ich habe alle Zeit der Welt. Sie sagt, möchtest du einen Orangensaft ? – Nein danke. Wart ihr euch treu ?, frage ich. Sie lacht. Sie hebt die Augen gen Himmel und sagt, ein Lederwarenvertreter, stell dir mal vor, mir
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