Glücklich die Glücklichen
sie kann einem auf den Wecker gehen, und ich danke dir, dass du mich von ihr befreist. Und später, mach dir keine Sorgen, mein Junge, die erste Ehe ist immer schwer. Ich fragte ihn, Sie waren also mehrmals verheiratet ? – Nein, eben nicht. Hinten spricht meine Mutter. Ich brauche einen Moment, um aus meinen Gedanken aufzutauchen und ihre Worte zu verstehen. Sie sagt, man empfindet erst hinterher etwas. Wenn das ganze Tralala des Todes vorbei ist. – Wenn das Tralala vorbei ist, werde ich nichts als Groll empfinden, sagt Jeannette. – Du übertreibst, sage ich. Sie schüttelt den Kopf, hatten Sie einen guten Ehemann, Zozo ? – Öhhh ... sagt meine Mutter. – Was willst du damit sagen, Maman ? Du warst doch glücklich mit Papa, oder ? – Unglücklich war ich nicht. Nein. Aber weißt du, ein guter Ehemann treibt sich nicht herum. Wir fahren schweigend die Avenue Gambetta hoch. Die Bäume spenden einen flirrenden Schatten. Jeannette wühlt wieder in ihrer Handtasche herum. Irgendjemand hupt zu meiner Linken. Ich will schon losschimpfen, als ich auf unserer Höhe die (dem Anlass einer Beerdigung gemäß) lächelnden Gesichter der Hutners erkenne. Lionel fährt, Pascaline beugt sich aus dem Fenster, um Jeannette zuzuwinken. Ich werfe einen kurzen Blick nach hinten. Bevor ich wieder beschleunige, habe ich noch genug Zeit, ihren Sohn Jacob zu erkennen, der aufrecht und selbstbewusst auf der Rückbank sitzt, eine Art indischen Schal um den Hals geschlungen. – Ihr habt die Hutners eingeladen ?, fragt Jeannette mit leidender Stimme. – Wir haben unsere engsten Freunde eingeladen. Die Hutners haben Ernest sehr gemocht. – O Gott, das bringt mich um, all diese Leute begrüßen zu müssen. Das bringt mich alles um. Dieses Mondäne. Wegen dieser Scheiß-Kremierung. – Kremation, verbessere ich. – Ach, Scheiß-irgendwas, er nervt mich, dieser Totengräber mit seinen bescheuerten Wörtern ! Sie klappt den Schminkspiegel in der Sonnenblende herunter und wirft einen prüfenden Blick auf ihr Gesicht. Während sie ihren Lippenstift nachzieht, sagt sie, weißt du, wen ich aber eingeladen habe ? Raoul Barnèche. – Wer ist das ? – Es gibt etwas, das ihr alle nicht wisst, sogar Odile nicht, etwas, das in keiner Zeitung stehen wird und das ich ganz allein getragen habe. Als er 2002 von seiner Bypass-Operation zurückkam, hatte Ernest eine richtig düstere Phase. Düster von morgens bis abends. Er lag in seinem Sessel, unter dem Bild von dem Einhorn, er stocherte auf seinem Teller herum und wollte keine Reha machen. Er dachte, er wäre am Ende. Albert, sein Chauffeur, kam auf die Idee, ihm seinen Bruder vorzustellen, der ein Champion im Kartenspiel ist. Dieser Typ, Raoul Barnèche, ein schöner Mann, du wirst sehen, eine Art Robert Mitchum, kam fast jeden Tag, um mit ihm Gin-Rommé zu spielen. Um Geld. Immer größere Summen. Das hat ihn wieder zum Leben erweckt. Ich musste dem einen Riegel vorschieben, bevor er sich restlos ausnehmen ließ. Aber das war seine Rettung. Wir fahren auf dem Friedhof ein, beim Aufbahrungsraum an der Rue des Rondeaux. Der Mercedes bleibt vor der Neo-Basilika stehen. Auf den Treppen und zwischen den Säulen sind Menschen. Ich kann Jeannettes Widerstreben nachempfinden. Odile und Marguerite sind schon draußen. Ein Mann in Schwarz weist mir den Parkplatz zur Linken an. Ich sage zu den Frauen, wollt ihr schon aussteigen ? Keine der beiden will aussteigen, und ich verstehe sie. Ich parke. Wir gehen an dem Gebäude entlang. Odile kommt ihrer Mutter entgegen. Sie sagt, da sind über hundert Leute, die Türen zum Saal sind noch geschlossen. Ich sehe Paola Suares, die Condamines, die Hutners, Marguerites Kinder, Dr. Ayoun, zu dem ich Ernest mehrmals gebracht habe. Jean Ehrenfried erklimmt die Stufen eine nach der anderen, gestützt von Darius Ardashir, der ihm die Krücke trägt. Etwas abseits, neben einem Busch, erkenne ich Albert, den Chauffeur meines Schwiegervaters. Er hat einen anderen Mann mit Mafiabrille dabei, dem Jeannette zulächelt. Sie kommen uns entgegen. Albert legt seine Arme um meine Schwiegermutter. Als er sie wieder loslässt, sind seine Augen feucht, und sein Gesicht scheint geschrumpft zu sein. Er sagt, siebenundzwanzig Jahre. Jeannette wiederholt die Zahl. Ich frage mich, ob Jeannette sich im Klaren ist, was er alles im Lauf dieser siebenundzwanzig Jahre gesehen und ihr verborgen haben kann. Sie dreht sich dem brünetten Mann mit seiner Cordjacke zu und nimmt seine
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