Glücklich die Glücklichen
Aufmerksamkeit auf sich ziehen will. André Taneux ist an die Stelle des Zeremonienmeisters hinter dem Pult getreten. Sehr geschickt zurückgefönte, radikal braungefärbte Haare (etwas violett in dem diffusen Licht, das durch die Kirchenfenster dringt). Trotz Odiles und Jeannettes Widerstreben hat er darauf bestanden, etwas zu sagen. Er entfaltet langsam sein Blatt und korrigiert unnötigerweise den Sitz des Mikros. »Eine imposante Gestalt wurde aus unserer Mitte gerissen und hinterlässt in ihrem Kielwasser den Duft von Gauloises und Aristokratie. Ernest Blot verlässt uns. Wenn ich mich heute hier zu Wort melde, Jeannette, herzlichen Dank, so deshalb, weil wir mit Ernest nicht nur einen uns teuren Menschen verlieren. Wir verlieren einen glücklichen Moment unserer Geschichte. Gleich nach dem Krieg kam in Frankreich, im Angesicht der Trümmer, unerwartet eine jener Parteien auf, denen es gelang, Männer mit den verschiedensten Horizonten und Überzeugungen zu vereinen, Gläubige wie Atheisten, Linke wie Rechte: die Partei der Modernisierung. Es hieß, im selben Zug den Staat und das Gewebe der Unternehmen wiederaufzubauen, die Spartätigkeit wiederaufzunehmen und sie in den Dienst des Wachstums zu stellen. Unser Freund Ernest Blot war eine der Leitfiguren dieser Partei. École Nationale d’Administration, Generalinspektion für Finanzen, persönlicher Mitarbeiterstab mehrerer Minister, Hochfinanz: eine kontinuierliche Lebenslinie zu einer Zeit, die leider vergangen ist, in der die Absolventen der École Nationale d’Administration keine Technokraten waren, sondern Aufbauer, in der der Staat nicht für Konservatismus stand, sondern für Fortschritt, in der die Banken nicht gleichzusetzen waren mit dem verrückt gewordenen Geld eines globalisierten Kasinos, sondern mit der unermüdlichen Finanzierung des Wirtschaftsgefüges. Eine Zeit, in der einer, der was taugte, nicht Karriere oder Vermögen machte, sondern seinem Land diente, ob im öffentlichen oder im privaten Sektor, weder eitel noch korrupt. Meine Trauer über den Verlust von Ernest ist groß, aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ein Gentleman eine Welt verlassen hat, zu der er nicht mehr passt. Ruhe in Frieden, mein Freund, fern einer Epoche, die deiner nicht wert ist.« – Und du, lauf schnell zum Friseur zum Nachfärben, flüstere ich Odile zu. Mit betrübt zusammengekniffenen Lippen faltet Taneux sein Blatt wieder zusammen und kehrt auf seinen Platz zurück. Der Bestatter wartet, bis seine Schritte auf dem Marmor verhallt sind. Er lässt einen Moment verstreichen und verkündet dann, Monsieur Ehrenfried, Geschäftsführer, ehemaliger Präsident und Generaldirektor von Safranz-Ulm Electric. Darius Ardashir beugt sich über Jean, hilft ihm dabei, aufzustehen und sich auf seine Krücke zu stützen. Jean hinkt vorsichtig zum Pult. Er ist mager, blass und trägt einen beige karierten Anzug, dazu eine gelb gepunktete Krawatte. Er stützt seine freie Hand auf das Pult, um das Gleichgewicht zu halten. Das Holz knirscht und hallt nach. Jean schaut auf den Sarg, dann nach vorn, bis ans Ende des Saals. Er holt weder Papier noch Brille hervor. »Ernest ... du hast mich gefragt, was soll ich denn bloß auf deiner Beerdigung sagen ? Und ich antwortete, du wirst das Loblied auf einen alten vaterlandslosen Juden singen, versuch zur Abwechslung mal ein bisschen tiefsinnig zu sein. Ich war älter als du und kränker, die umgekehrte Situation hatten wir nicht vorgesehen ... Wir telefonierten regelmäßig. Ein Satz kehrte immer wieder: Wo bist du ? Wo bist du ? Wir waren oft kreuz und quer unterwegs, wegen der Arbeit, aber du hattest Plou-Gouzan L’Ic, dein Haus in der Nähe von Saint-Brieuc. Du hattest dein Haus und deine Apfelbäume in einem kleinen Tal. Wenn ich dich fragte, wo bist du, und du sagtest, in Plou-Gouzan L’Ic, dann war ich neidisch. Du warst wirklich irgendwo. Du hattest vierzig Apfelbäume. Pro Jahr machtest du hundertzwanzig Liter von einem scheußlichen Cidre, den ich am Ende mochte ...« Er unterbricht sich. Er schwankt und hält sich am Pult fest. Der Bestatter scheint sich einschalten zu wollen, aber er hindert ihn daran. »Ein harter, rauher Cidre, um mit deinen Worten zu sprechen, in Plastikflaschen mit einem Verschluss wie ein Putzmittel, meilenweit entfernt von den verkorkten, perlenden Cidres der Bürger. Das war dein Cidre. Er kam von deinen Apfelbäumen und deiner Erde ... Wo bist du jetzt ? Wo bist du ? Ich weiß, dass
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