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Gluecklich, wer vergisst

Gluecklich, wer vergisst

Titel: Gluecklich, wer vergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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linken, einsturzgefährdeten Trakts. Schon bei meiner Ankunft war mir aufgefallen, dass sie sich in einem relativ guten Zustand befand. Mario erzählte mir stolz, dass er sie mit Hilfe vom Fischer-Heinz renoviert hatte.
    „Die neuen Fenster haben zwar ein Vermögen gekostet, sind dafür aber dicht.“
    Mein neuer Neffe – oder sollte ich lieber Halbneffe sagen? – gefiel mir gut. Seine Natürlichkeit und seine offene Art sprachen mich an.
    Als er in der umgebauten Orangerie Licht machte, sah ich ihn mir genauer an. Er war eine Spur größer als ich und gut gebaut, er schien ein Fitness-Studio zu besuchen. Seine ebenmäßigen Züge erinnerten mich allerdings nicht an Franzi, sondern an jemand anderen. Ich wusste nur nicht gleich an wen. Vielleicht an meinen schönen Vater?
    Ich nahm auf der cremefarbenen Ledercouch Platz und zündete mir noch eine Zigarette an.
    Mario stellte einen Korbsessel und einen kleinen Tisch im Pseudo-Kolonialstil neben die Couch, holte eine Flasche Whisky und sah mich fragend an.
    „Nichts gegen einen kleinen Schlummertrunk, aber Tee wäre mir, ehrlich gesagt, lieber.“
    Er legte ein paar Scheite in dem schwedischen Holzofen nach und stellte Teewasser auf. Dann setzte er sich zu mir.
    „Ich bin nur selten hier“, sagte er mit einem Blick auf meinen Mantel, den ich anbehalten hatte. „Es wird gleich warm werden. Der Ofen ist ein richtiger Feuerspucker. Ich hatte mein Jugendzimmer gründlich satt, und Mama und Großmutter haben tatsächlich die Kohle für den Umbau der Orangerie rausgerückt. Trotzdem schlafe ich meistens unten am See. Ich habe über meiner Bar eine Garçonnière mit Zentralheizung. Hier oben haben sie mich nach wie vor unter Kontrolle.“ Er blinzelte mir verschwörerisch zu.
    „Entschuldige, Mario, ich wusste bis vor ein paar Minuten noch gar nichts von dir. Welche Bar und wo?“
    „Waas? Sie haben mich dir verschwiegen? Das sieht ihnen ähnlich.“ Die Theatralik in seiner Stimme war nicht zu überhören. Nach diesem kleinen Ausbruch war ich endgültig davon überzeugt, dass er Victors Enkel war.
    „Mein Vater hat deine Existenz erwähnt, aber ich habe eher ein Kleinkind oder einen pubertierenden Jüngling erwartet, auf keinen Fall ein ausgewachsenes Mannsbild. Ich habe noch kaum Gelegenheit gehabt, mit allen ausführlich zu reden.“
    Ich wunderte mich genauso wie er, dass Walpurga mir nicht mehr von ihm erzählt hatte, verschwieg ihm aber lieber, dass sie mir stundenlang die Szenen einer furchtbaren Ehe geschildert hatte.
    Während Mario den Tee zubereitete, sagte er: „Ich glaube, ich werde deinen Vater Opa nennen. Ich habe mir immer einen Opa gewünscht. Aber dieser Arsch hat sich diesen Namen verbeten.“
    „Du meinst Philip.“
    „Ja, wen denn sonst?“
    „Du hast ihn nicht leiden können?“
    „Als kleiner Bub schon. Angeblich bin ich ihm nachgelaufen wie ein junger Hund. Aber er hat mich gehasst. Und als ich dann Bescheid gewusst habe, hasste ich ihn auch.“
    „Als du was gewusst hast?“
    „Dass er mein Vater war.“
    Obwohl es nun an mir war, theatralisch zu werden, schwieg ich, schaute ihm nur lange in die Augen. Ich konnte rechnen. Als ich sein Alter geschätzt und die Jahre zurückgezählt hatte, waren die schrecklichen Bilder blitzartig vor meinen Augen aufgetaucht. So sehr ich mich auch bemühte, mir jene abscheuliche Szene im Bootshaus genauer in Erinnerung zu rufen, ich sah immer nur Franzis verzweifelten Gesichtsausdruck, ihr langes rotblondes Haar und ganz verschwommen diesen männlichen Hintern, der sich schneller und schneller auf und ab bewegte.
    Mich fröstelte.
    Später hatte ich mich selbst einen erbarmungswürdigen Feigling geschimpft. Warum hatte ich mich damals nicht auf dieses Schwein gestürzt? Ihm nicht mit meinen langen Fingernägeln den Rücken zerkratzt? Ihn an den Haaren von Franzi weggezerrt? Ihm die Faust ins Gesicht geschlagen?
    Franzi und ich hatten nie mehr miteinander über diesen Tag, der unsere Kindheit und unsere Freundschaft beendet hatte, gesprochen. Aber das hatte ich in jenem furchtbaren Augenblick nicht wissen können. Ich war gerade vierzehn Jahre alt gewesen. Ahnungslos und naiv.
    Der Schwur, den ich Franzi damals gegeben hatte, war nicht viel wert gewesen. Als ich am nächsten Morgen mit verheultem Gesicht zum Frühstück erschienen war, hatte mir meine Mutter neugierige Fragen gestellt. Gisela hatte mir die Notlüge, dass ich mit Franzi gestritten hätte, nicht abgenommen. Sie hatte mich den ganzen Tag

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