Gluecklich, wer vergisst
Der Rasen vor dem Eingang war lange nicht gemäht worden. Die braunen Grashalme standen mindestens vierzig Zentimeter hoch.
Ich genoss es, durchs feuchte Gras zu gehen. Obwohl ich am liebsten den Hang hinuntergelaufen wäre, hielt ich haus mit meinen Kräften. Der Boden war rutschig. Ich war völlig untrainiert und hatte keine Lust, mir einen Fuß zu verstauchen.
Mario und ich hatten am Vorabend bis drei Uhr früh miteinander geredet. Ein bisschen Joggen an frischer Luft würde mir sicher zu einem klaren Kopf verhelfen. In den letzten Jahren hatte ich mich oft nach dieser reinen Luft am frühen Morgen, den schroffen, felsigen Bergen im Osten, dem lieblichen grünen Hügelland im Westen und dem türkisgrünen Wasser dazwischen gesehnt.
Außerdem war es höchste Zeit, mich körperlich etwas in Form zu bringen. In Wien nahm ich mir kaum Zeit zum Laufen. Hier hatte ich nichts anderes zu tun, als herumzusitzen und mir die tragischen Lebensgeschichten dieser Leute anzuhören.
Kaum hatte ich den Laubwald erreicht, begann ich zu rennen. So ganz allein unter einer Nebelglocke im Wald war mir etwas mulmig zumute.
Ich lief bis zur Seestraße hinunter. Dieser lange, triste Abschnitt entlang der Atterseebundesstraße konnte einem das Joggen fast verleiden. Es gab keinen Gehsteig, keinen Radweg, nur den schmalen, leicht abfallenden Straßenrand zwischen der Böschung und der Fahrbahn. Zum Glück waren um diese Zeit wenige Autos unterwegs. Aber die fuhren zu schnell.
Nachdem mich einer dieser Verrückten fast mit seinem Kotflügel gestreift hätte, hielt ich kurz inne. Meine Kondition ließ tatsächlich zu wünschen übrig. Obwohl ich nicht allzu lange gelaufen war, spürte ich ein Stechen in der Lunge und mein Herz raste.
Dichte Nebelschleier zogen über den See, ließen sowohl die gegenüberliegende Gebirgskette als auch das düstere südliche Ende hinter einer undurchdringlichen Wand verschwinden.
War dort vorne nicht der große Parkplatz vom Strandbad? Ich schleppte mich ein paar Meter weiter, versuchte, regelmäßiger zu atmen. Meine Bronchien röchelten wie die eines Lungenkranken.
Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Wahrscheinlich waren sie seit einer Ewigkeit dort. Bei einem Wagen fehlten die Nummernschilder, ein anderer hatte einen platten Reifen. War ich auf einem Autofriedhof gelandet?
Als ich mich dem Weg zur Uferpromenade näherte, schimpfte ich mich eine Idiotin. Was für eine blöde Idee, bei dieser Kälte und diesem Nebel joggen zu gehen. Was hätte ich jetzt nicht für eine heiße Dusche und eine Tasse Kaffee gegeben. Weit und breit war kein Café in Sicht, geschweige denn eine Dusche. Obwohl, war das nicht der Eingang zum Strandbad?
Hier sieht es ja aus wie im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses, dachte ich, als ich vor dem Eingang angelangt war. Bevor ich noch in Versuchung kam, den fast drei Meter hohen Zaun zu erklimmen, fiel mir ein, dass sie das Wasser längst abgedreht hatten.
Auch auf der Promenade war ich ganz allein unterwegs. Die schönen Villen schienen leerzustehen. Die Landhäuser im typischen Salzkammergutstil – unten Stein, oben Holz und eine kleine verglaste Loggia – wirkten verlassen. Die Fensterläden waren zu, die Türen verrammelt. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ein kleines Schlösschen, die Villa Paulick, in der Gustav Klimt und seine Braut Emilie Flöge viele Sommer verbracht hatten, kam in Sicht. Warum war ich nicht in dieser Pension mit Jugendstil-Inventar und Klimt-Originalen an den Wänden abgestiegen? Warum fror ich mir in diesem verfallenen Schloss den Arsch ab?
Ich wurde langsamer und langsamer. Als Laufen konnte man meine Art der Fortbewegung nicht mehr bezeichnen. Ein Café vor mir. Meine Rettung!
„Marios Bar“, stand in Riesenbuchstaben über dem Eingangstor zur Terrasse. „Geschlossen“, war auf einem Schild an der Tür zu lesen. Ach Mario, dachte ich, warum hast du heute Nacht nicht in deiner Garçonnière über der Bar geschlafen.
Ich schwitzte. Es war kalter Schweiß, der mir über den Rücken rann. Ich scheuchte ein paar schwarze Enten und einige Schwäne auf, bevor ich kehrtmachte und wieder zurücklief. Endlich hatte ich meinen Laufrhythmus gefunden, lief jetzt leichtfüßiger, geriet weniger außer Atem.
Der Morgennebel lag wie ein Gewirr von Spinnenfäden über dem Wasser. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich jedoch bereits ihren Weg durch den zarten Schleier. Auf der glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die
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