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Gluecklich, wer vergisst

Gluecklich, wer vergisst

Titel: Gluecklich, wer vergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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schweren Eichenäste. Die Luft roch nach feuchter Erde und ein wenig nach Moder. Ich stellte mir vor, wie ich im Schatten der alten Bäume lag, dem Rascheln der Blätter über mir und dem Plätschern der Wellen unten am Ufer zuhörte.
    Plötzlich tauchten das Bootshaus und der Steg vor mir auf.
    Die Hälfte des Seegrundstückes, das zum Schloss gehörte, hatte die Baronin früher an den kinderreichen evangelischen Pfarrer verpachtet. Die Hecke zwischen den beiden Badeplätzen war damals kaum einen halben Meter hoch gewesen. Heute trennte ein hoher Lattenzaun, der von Brombeersträuchern und wildem Wein überwuchert wurde, das Grundstück.
    Ein Bachstelzenpärchen vergnügte sich vor meinen Augen auf der Wiese. Draußen, am Ende des Steges, zeichnete sich die dunkle Silhouette eines großen Mannes ab.
    Das Gatter stand sperrangelweit offen. Ich zögerte. Irgendein unbestimmtes Gefühl, keine reale Angst, nur ein gewisses Unbehagen hielt mich zurück. Obwohl ich mir einbildete, den Mann, der dort draußen stand und aufs Wasser schaute, zu kennen. Der gesenkte Kopf, die vorgebeugten Schultern – Albert hatte schon immer eine schlechte Haltung gehabt.
    Er konnte mich nicht sehen. Wären wir noch Kinder gewesen, hätte ich mich, lautlos wie ein Indianer, angeschlichen.
    Kurz bevor ich den Steg erreichte, blieb ich stehen. Wollte ich ihm jetzt überhaupt begegnen? Wenn ich weiterginge, würde mich das Knarren der morschen Bretter verraten. Was machte er bloß dort draußen? Man sah fast nichts. Das gegenüberliegende Ufer lag nach wie vor unter einer dicken Nebeldecke.
    In diesem Moment drehte er sich um.
    „Servus“, sagte ich zaghaft.
    Er traf keine Anstalten, zu mir zu kommen, also ging ich auf den Steg hinaus.
    „Ich war joggen.“ Was für eine überflüssige Bemerkung, stand ich doch im Jogginganzug und in Laufschuhen vor ihm.
    „Sport ist Mord“, scherzte er, aber sein Blick war ernst und traurig wie immer.
    „Und was machst du hier?“
    „Ich gehe jeden Morgen am See spazieren. Heute bin ich etwas spät dran. Wegen des Nebels.“
    „Ich wollte mich hier ein bisschen umsehen. Ich habe diesen Ort in meiner Kindheit geliebt“, versuchte ich meine Anwesenheit auf seinem Grund und Boden zu rechtfertigen.
    „Und hast du deine Neugier befriedigen können?“ Albert verzog keine Miene.
    „Zum Teil. Ich würde mir gern euer Bootshaus ansehen, wenn ich darf“, sagte ich, weil mich seine arrogante Art ärgerte. „Hast du den Schlüssel zufällig dabei?“
    „Soviel ich weiß, sperren wir nie ab. Dort drinnen gibt’s nichts Erbauliches zu sehen. Unser Ruderboot ist leck, und Marios Segelboot dient den Fischen als Laichstätte. Manchmal stellt Heinz sein Boot bei uns unter. Aber ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen.“
    Ich machte trotzdem kehrt und ging auf das Bootshaus zu. Er folgte mir widerwillig. Die Tür klemmte, war aber nicht abgesperrt. Kein Vorhängeschloss, so wie früher. Als ich noch einmal fest anriss, hatte ich den verrosteten Bügel in der Hand. Die Tür war einen Spalt breit offen. Ich zog sie mit beiden Händen ganz auf. Dauerte es zwei Minuten oder zwei Sekunden, bis ich zu schreien begann?
    Es verging jedenfalls eine kleine Ewigkeit, bis ich wieder bei Sinnen war. Ich musste wohl beim Anblick der blutroten Graffitis in Ohnmacht gefallen sein. Holzboden und Wände des Bootshauses waren mit rotbrauner Farbe beschmiert. Es sah aus wie getrocknetes Blut. Und zwischen den beiden lecken Booten trieb ein menschlicher Kopf im flachen Wasser. Ein Kopf fast ohne Gesicht. Er pendelte zwischen den beiden Bootsrümpfen hin und her. Sanfte Wellen spielten mit ihm wie mit einem Ping-Pong-Ball.
    Ich holte tief Luft und zwang mich, den grauenhaften Totenschädel genauer anzusehen. Das Gesicht war durch tiefe Schnittwunden fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Leere Augenhöhlen starrten mich vorwurfsvoll an. Der Mund ein verzerrtes schwarzes Loch. Das fehlende Gebiss verlieh ihm ein teuflisches Grinsen. An der Stelle, wo sich normalerweise die Nase befindet, klaffte ein Spalt, der sich von der Stirn bis zum Kinn zog. Langes Haar bedeckte für eine Sekunde das unmenschliche Gesicht, wurde von der nächsten Welle wieder weggespült. Es war Seegras. Der Schädel war fast kahl. Mir fiel auf, dass der Kopf ziemlich hoch und sehr gleichmäßig am Hals abgeschnitten worden war. Nur Motorsägen hinterlassen solch gleichmäßige Spuren, dachte ich, behielt aber diesen Gedanken für mich.
    Ich wollte etwas sagen.

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