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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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gerecht zu werden, ihre letzten Gemälde eleganter Weidetiere in leuchtenden Rot- und Gelbtönen – diese Kunst zeugte von einer offenen, großzügigen Einstellung dem Leben gegenüber, wie es sie in Enriques konkurrenzfixierter, zorniger Welt nicht gab.
    Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, wie es sein armes Herz verkraften sollte, den Devisenstrom ihrer Liebe zu verlieren. Was würde ihm je wieder Mut machen, wenn nicht die Kraft ihres azurblauen Blicks, ihr Glauben an seine Stärke? Er war nicht stark. Ohne sie war er einfach nur verwirrt. Das sah man doch jetzt schon, wo er seinen Job als Termine machender Sekretär verloren hatte und demnächst auch noch den als Krankenpfleger verlieren würde – ohne Margaret, seine Verbindung zur Welt, seine Seinsform, hatte er nichts zu tun, als dumm herumzustehen und in den Sonnenuntergangshimmel über Manhattan zu starren, trübselig, statt über dessen Schönheit zu staunen. Wie sollte er sich daran erfreuen? Er wusste ja, die Gebäude der City, und seien sie noch so hoch, waren nichts Bleibendes, und er wusste auch, dass das, was er hörte, schmeckte, berührte, nicht von Dauer war. Er war immer in der Zukunft oder in der Vergangenheit, während Margaret in der Gegenwart lebte. Sie war Leben, also starb jetzt das Leben.
    Er beschloss, keinen Hydratationsbeutel anzuhängen. Was er bis jetzt getan hatte, konnte er rechtfertigen: Er hatte das Fieber durch ein Antibiotikum unter Kontrolle gebracht, aber nicht versucht, ihr Leben zu verlängern. Wahrscheinlich war der Prozess inzwischen sowieso irreversibel. Nach vierTagen ohne Flüssigkeits- und Nährstoffzufuhr glitt sie jetzt in den Schwächezustand hinüber, der dem endgültigen Koma voranging. Er beschloss, darauf zu hoffen, dass sie, wenn er jede Sekunde an ihrer Seite blieb, zwischendurch kurz aus ihrem Dämmerzustand auftauchen und so weit zu sich kommen würde, dass er es ihr sagen konnte. Nicht von seinen Ängsten vor der Zukunft ohne sie würde er sprechen, nein, er würde ihr sagen, welch großes Geschenk ihre Zeit und ihre Zuneigung gewesen waren und wie dankbar er dafür war, für jeden einzelnen Tag, den er sie gehabt hatte.
    Und wenn nicht, wenn er tatsächlich die Chance verpasst hatte, sich gebührend von ihr zu verabschieden, war er doch wenigstens nicht unnötig grausam zu ihr gewesen. Sie würde sterben, ohne zu wissen, dass er sie mit einer ihrer Freundinnen betrogen hatte. Sally hatte nach Margarets Erkrankung wieder regelmäßigeren Kontakt mit ihr aufgenommen, hatte alle paar Wochen aus London, wo sie mit ihrem englischen Ehemann und ihren blonden Zwillingstöchtern lebte, gemailt oder angerufen. Vor einem Jahr war sie zu Besuch herübergekommen und hatte zwei, drei Stunden mit Margaret allein verbracht, dann war Lily zum Mittagessen zu ihnen gestoßen – das Kleeblatt wiedervereint. Enrique hatte dafür gesorgt, dass er nicht da war. Nicht, um Peinlichkeiten zu vermeiden, er und Sally waren sich bereits ein-, zweimal bei runden Geburtstagen begegnet, und das war freundlich und mühelos verlaufen. Er hatte gewollt, dass sie sich gemeinsam an ihre männerlose Jugend erinnern konnten.
    Sally war ein missliches Überbleibsel. Die Affäre war für seine Ehe bedeutungslos. Aber ihm war immer klar gewesen, dass Margaret, wenn sie es herausfände, dennoch extrem verletzt und wütend wäre. Er hätte ihr nie erklären können, dass der untreue Enrique toter war als die Affäre selbst. Für Sally, die zufrieden in ihrer seit zwanzig Jahren bestehenden Ehe lebte, war das Ganze eine zutiefst peinliche Episode, diesie am liebsten vergessen hätte. Dass sie darüber reden würde, brauchte er nicht zu befürchten.
    Lily hatte Enrique erzählt, wie herzzerreißend es gewesen war, mit Margaret die Garderobe für ihr Grab auszusuchen und ihr danach ihren Laptop zu bringen, damit sie noch eine Abschieds-E-Mail an ein paar Freundinnen schreiben konnte, mit denen sie nicht mehr persönlich hatte reden können, unter anderem auch an Sally. Das stieß Enrique noch einmal darauf, wie schwach und dumm er gewesen war, beinahe wäre ihr zweiter Sohn Max nicht gezeugt worden, beinahe hätte er die wahre Liebe seines späteren Ehelebens versäumt und wäre nie der Mann geworden, der er jetzt war. Und in dieser einen Hinsicht war es eine Erleichterung, dass Margaret sterben würde: Seine Angst, sie würde eines Tages unnötigerweise von seinem Seitensprung erfahren, würde er mit ihr begraben. Diese Endgültigkeit hatte

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