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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Gesicht, wütend und beschämt. Er hatte das Gefühl, dass alles ihre Schuld war: der Verrat an seiner Familie, dass er im Geist stets über sie gespottet hatte, dieser falsche Frieden mit seinem Vater, seinem Halbbruder und seiner Mutter, den Margaret gefordert hatte, damit Familienzusammenkünfte, an denen ihre Kinder teilnahmen, nicht noch verrückter abliefen. Es war alles ihr Werk, auch dass er nicht am Sterbebett seines Vaters geblieben war. Margaret hatte gesagt, es habe doch keinenSinn, die ganze Nacht im Krankenhaus zu sitzen, das würde nur Greg und Max beunruhigen und ihn selbst fix und fertig machen, aber niemandem etwas nützen. »Er liegt im Koma«, hatte sie gesagt. »Er kriegt doch gar nicht mit, wer da ist.«
    Enrique warf sich auf ihr Ehebett. Sie beugte sich über ihn, versuchte ihn in die Arme zu nehmen, ihn an sich zu ziehen, er rollte seine eins neunzig so klein zusammen, dass er nicht länger war als sie. Er fühlte ihren Atem auf seiner Wange, als sie ihre Lippen seinen zu nähern versuchte, ihn dann aber stattdessen auf die Stirn küsste und »Liebling, armer Liebling« flüsterte, weil sie ihn unbedingt trösten wollte. Aber es war ihre Schuld, dass er alles verraten hatte, was sein Vater sich von ihm erhofft hatte – dass er kein großer Künstler war, kein unerschrockener Künder der Wahrheit –, dass er das alles weggeworfen hatte, um ein schäbiges bourgeoises, konsumistisches Leben in feiger Sicherheit zu führen. Das war die Wahrheit, die bittere Wahrheit.
    »Du liebst mich nicht«, stieß er hervor, ein geplagtes, bissiges Tier. Er streckte den Kopf aus seiner Embryonalstellung hervor und fauchte: »Du liebst mich nicht!«
    »Was?« Seine Frau sah verblüfft aus.
    Er wollte diesen verstörenden Gedanken entfliehen, stürzte aus dem Bett, ohne zuerst richtig aufzustehen, und stolperte – er hörte Margaret aufschreien, als er auf den schmalen Eichenholzdielen landete. Im Taumeln schrie er: »Du liebst mich nicht.«
    Sie berührte seinen Rücken, fasste ihn unter den Achseln, um ihm aufzuhelfen, und fragte: »Alles okay? Hast du dir wehgetan?«
    Er riss sich los, stand auf und stürzte zur Fensterfront, starrte auf das Panorama der Stadt, um sich selbst zu entkommen, diesen Gedanken zu entkommen, die ihm keine Ruhe ließen. Ich bin verrückt, befand er, ein klares Urteil,das durch das Dickicht seiner Hirngespinste drang. Ich verliere den Verstand.
    Margaret erschien neben ihm, schob sich unter seinen Arm, ihr Gesichtsausdruck war jetzt nicht mehr fröhlich, sondern irritiert. »Enrique«, sagte sie beschwörend, »wovon sprichst du? Ich liebe dich. Du weißt, dass ich dich liebe.«
    »Nein, tust du nicht«, schluchzte er und verlor schließlich endgültig die Kommandogewalt über sein Gehirn. Er heulte und hörte sich immer wieder sagen: »Du liebst mich nicht, du liebst mich nicht«, als ob nicht er diese Worte spräche, sondern irgendein Verrückter.
    Sie umarmte ihn und erklärte: »Ich liebe dich so sehr.« Sie lehnte sich zurück, um ihm in die Augen zu schauen, und fragte eindringlich: »Wie kannst du nicht wissen, dass ich dich liebe?«
    Er sank auf das Sofa unter dem Panoramafenster. Sie setzte sich neben ihn, streichelte seine Hand, küsste ihn auf die Wange und versuchte ihn zu beruhigen, denn er zitterte wie Espenlaub. Einen Moment wurde er ruhig. Dann begann er wieder zu zittern und zu stöhnen. »Sch-scht«, sagte sie. Er legte den Kopf an ihre Brust, schloss die Augen und versuchte, sein eigenes Wimmern auszublenden. Er wurde ruhiger. Als auch der Lärm in seinem Kopf verstummte, als sein Gehirn es aufgab, aus seinem Schädel bersten und ins Weite flüchten zu wollen, dachte er: Wo kam das her?
    Margaret hob sanft seinen Kopf, küsste ihn auf den Mund und fragte: »Du weißt doch, dass ich dich liebe, Enrique? Du weißt, dass ich dich mehr liebe denn je?« Sie sah ihn an, und im Pazifik ihrer Augen wurde sein Wahnsinn hinweggeschwemmt. »Du weißt es, oder?«
    »Nein«, sagte er. Eine reine Tatsachenfeststellung.
    »Wie kannst du das nicht wissen?« Ihre Stimme klang erstaunt. Ihr blieb der Mund offen stehen.
    »Ich bin verrückt«, sagte er. »Dein Mann ist verrückt.«
    »Es ist nicht verrückt, wenn du wegen deines Vaters traurig bist.«
    Er umklammerte sie, und die Worte kamen einfach aus ihm heraus, obwohl er diesen Gedanken noch nie gedacht hatte. »Ich habe Angst, dass du mich nicht mehr liebst. Ich habe solche Angst, dass du aufhörst, mich zu lieben.«
    »Ich

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