Glückskind (German Edition)
darüber und verlässt die Wohnung. Er ist zu panisch, um in Ruhe nachzudenken. Herr Wenzel muss helfen, denkt er immer wieder, während er auf den Fahrstuhl wartet und Felizia sich in Krämpfen windet. Der Fahrstuhl braucht eine Ewigkeit, bis er kommt. Dann fährt er viel zu langsam hinunter. Als er endlich im Erdgeschoss ankommt, stößt Hans die Tür auf und eilt hinaus. Es herrscht dichter Verkehr, Hans steht am Straßenrand und sucht nach einer Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos. Plötzlich hält er inne. In seinem Kopf taucht eine Szene auf: Hans mit Hanna, und Hanna schreit und schreit, zieht ihre Beine an und schreit. Jetzt erinnert er sich an jene Zeit. Es war kurz nachdem sie entschieden hatten, dass er zu Hause bleiben, dass Karin abstillen würde, um arbeiten zu gehen. Wie alt war Hanna damals?, fragt Hans sich. Die Sonne spiegelt sich in den Windschutzscheiben der Autos, das Licht ist grell, Hans hat viel zu wenig geschlafen. Der Verkehr lärmt, irgendwo hupt jemand, Felizias Schreien klingt gedämpft zu Hans herauf. Er kneift die Augen zusammen. »Höchstens zwei Monate«, murmelt er. Damals begannen Hannas Krämpfe. Beim ersten Mal, was für ein Licht war da?, fragt Hans sich und blinzelt in den Himmel. Es war genau das gleiche Licht wie heute, als Hanna zum ersten Mal anfing zu schreien und nicht mehr aufhörte. Wie konnte ich das nur vergessen?, fragt er sich. Damals rannte Hans zum Arzt, und jetzt weiß er auch, wohin die Erinnerung mit der Muttermilch gehört. Sie gehört zu Frau Doktor Brinkmann, der Kinderärztin. Er erzählte seiner Frau nie, wie er ausgerechnet auf sie kam. Er log sie sogar an, tat so, als habe er mit kühlem Kopf im Telefonbuch nachgeschlagen, dann angerufen und einen Termin vereinbart. Hans schüttelt den Kopf, wie einer, der sich selbst nicht mehr versteht. Die Wahrheit ist nicht so schmeichelhaft, das weiß er genau. Denn damals wusste er nicht, wohin er sich wenden sollte, Karin war von seinen Anrufen wegen jeder Kleinigkeit genervt, er wollte sie nicht schon wieder im Büro belästigen, aber er war bereits in Panik mit Hanna auf die Straße gerannt, genau wie heute, und dann wollte er nicht wieder zurück in die Wohnung, genau wie heute. Hans seufzt tief, als er sich wieder an alles erinnert. Damals fragte er dann einfach irgendeine Mutter, die gerade mit ihrem Kind vorbeikam, nach einem Kinderarzt. Sie nannte ihm einen Namen und eine nahe Adresse, und dorthin ging Hans mit Hanna und setzte sich ins Wartezimmer. Weil Hanna so schrie, ließen ihn die anderen Mütter vor, vielleicht auch weil ein Mann mit einem schreienden Säugling hilfloser wirkt als eine Frau, es muss für die Mütter fast so gewesen sein, als hätten sie einen verstörten Jungen mit einem kranken Baby im Arm vorgelassen, ja, so fühlte Hans sich damals unter all jenen Frauen, die sich ihrer Sache so sicher waren. Hans erinnert sich daran, wie peinlich ihm alles war. Er hatte das Gefühl, gar kein richtiger Mann zu sein. Sogar Hanna, seine eigene Tochter, war ihm peinlich. Und dass die Frauen ihn vorließen, empfand er als Demütigung. Wie machen die das, fragt Hans sich jetzt, dass sie sich selbst nicht mehr beachten vor lauter Sorge? Er sagt zu Felizia, die immer noch schreit: »Keine Sorge, Kleines, du bist genau da, wo du jetzt sein musst.« Frau Doktor Brinkmann hatte ihn darüber aufgeklärt, dass Hanna an einer typischen Dreimonatskolik litt. Vermutlich wegen der fehlenden Muttermilch. »Geben Sie ihr die Flasche nicht so häufig, aber geben Sie ihr mehr pro Mahlzeit«, hatte sie gesagt.
Hans geht wieder nach Hause, wickelt Felizia aber nicht aus, sondern lässt sie die ganze Zeit im Wickeltuch vor seinem Bauch hängen. »Wärme am Bauch ist gut«, hatte Frau Doktor Brinkmann gesagt, und Hans war wieder nach Hause gegangen, hatte sich mit Hanna ins Badezimmer gesetzt, den Föhn angeschaltet und ihr warme Luft auf den Bauch geblasen. Es half, Karin war eine kurze Zeit lang zufrieden mit seinem Job als Vater, Hans merkte es, obwohl sie nichts sagte. Nie sagte sie etwas, wenn sie zufrieden mit ihm war. Er musste es »wissen«. Aber Hans wusste es nicht. Er hatte das Gefühl, dass sie immer nur auf ihm herumhackte.
Er seufzt. »Du brauchst keinen Föhn, kleines Mädchen«, sagt er zu Felizia. »Du brauchst nur meinen warmen Bauch an deinem.«
Bald schreit Felizia nicht mehr und schläft ein. Hans ist erschöpft. Er will den Fernseher einschalten, aber es widerstrebt ihm. Alles hat er sauber
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