Glückskind (German Edition)
Stupsnäschen, den großen Augenlidern und dem kleinen Mund. Er lauscht ihrem leisen Schnaufen, dann lassen die beiden Männer das Kind wieder allein. Bevor Herr Wenzel geht, sagt er zu Hans: »Kommt doch morgen zum Frühstück ins Geschäft.« Hans nickt, dann geht Herr Wenzel.
An diesem Abend sieht Hans wieder fern. Felizia hat er gefüttert, sie hat Bauchschmerzen bekommen und geschrien, er hat sie im Wickeltuch durch die Wohnung getragen, bis es ihr wieder besser ging. Anschließend hat er Geschirr gespült, weil er mit einem Schreck gesehen hat, dass sich schon wieder ein kleiner Berg in der Spüle bildete. Das darf nicht mehr vorkommen, hat er gedacht und sofort die Ärmel hochgekrempelt. Danach ist er durch die Wohnung gelaufen und hat alles inspiziert, aber seine Angst war unbegründet, noch ist alles sauber und in Ordnung, kein Wunder, es ist ja erst ein Tag vergangen seit seiner Wasch-und-Putz-Nacht. Nun sitzt er entspannt auf seinem Fernsehstuhl und schaut die Lokalnachrichten.
Irgendwo in der Stadt ist ein Mensch von einem anderen Menschen niedergeschlagen worden, einfach so, sie kannten einander nicht einmal.
Irgendwo auf dem Land ist ein Mensch betrunken mit dem Auto verunglückt.
Hans achtet nicht so genau auf die einzelnen Berichte, er genießt das Gefühl, ohne schlechtes Gewissen dazusitzen und sich berieseln zu lassen. Er fühlt sich jenseits all der Zwänge und Pflichten, die ihn bisher so belastet haben, dass er ihnen nicht nachkommen konnte.
Im Fernsehen erscheint jetzt eine Frau, die mit beiden Händen eine aufgeschlagene Zeitung über ihren Kopf hält, so dass man ihn nicht sehen kann. Sie ist schlank, trägt einen weißen Pullover und eine Jeans, zwei Polizisten geleiten sie von einem Auto hin zu einer Treppe. Die Stimme aus dem Off gehört einer Frau, sie rattert Informationen herunter. Hans versucht, das Gesicht der Frau zu sehen, doch sie schirmt sich geschickt ab, sie hält den Kopf halb geduckt, als regne es auf sie nieder, und flieht vor den Kameras in das Gebäude hinein, neben ihr die beiden Polizisten, einer führt sie am Ellenbogen, es sieht aus, als dürfe es nicht so aussehen, als wäre sie noch ein freier Mensch. Der Bericht ist beendet, die Nachrichtensprecherin erscheint wieder im Bild, sie sagt noch, nach der kleinen Marie werde fieberhaft gesucht, man gehe davon aus, dass sie tot sei, dann wechselt sie das Thema.
Hans schaltet den Fernseher aus. Er starrt den erblindeten Bildschirm an, minutenlang, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen sieht er Bilder. Er sieht, wie ein Mann eine junge Frau mit drei Kindern verlässt. Die junge Frau hat eine Zeitung auf ihrem Kopf. Hans schüttelt den kahlen Kopf. »Soll sie doch einfach verschwinden!«, ruft er dem Fernseher zu. Nichts will er von dieser Frau und ihrer Misere wissen. Was sie getan hat, ist unverzeihlich, denkt er und wiederholt das Wort in seinem Kopf: unverzeihlich. Dann erhebt er sich mühsam von seinem Stuhl. Er kann gar nicht aufrecht stehen, so schwer fühlt er sich mit einem Mal. Marie. Der Name irrt durch seinen Kopf, Hans ist damit beschäftigt, ihn nirgends ankommen zu lassen. Er schlurft ins Badezimmer und putzt sich die Zähne. Er schaut sich an, immer noch hat er sich nicht an sein neues Aussehen gewöhnt. Viel jünger wirkt er jetzt, aber auch verletzlicher, vor allem am Hals, der ist so dünn, so dünn, so dünn, Marie. Da ist der Name wieder. Hans putzt sich die Zähne. Marie. Hans wäscht sich das Gesicht. Marie. Hans trocknet es ab. Marie. »Zum Teufel!«, ruft er in den Spiegel, wo ihn ein wütender Mann anstarrt. »Zum Teufel mit diesem Namen!«
Aber der Glatzkopf schaut ihn plötzlich fragend an. Darf er Felizia ihren wahren Namen vorenthalten, nur weil Eva M. getan hat, was sie getan hat, nur weil Hubert M. sie verlassen hat. Vierundzwanzig Jahre und schon drei Kinder, denkt Hans mit einem Ausrufezeichen der Empörung. Haben die nichts von der Pille gehört, denkt er mit einem Fragezeichen der Entrüstung. Marie. Der Name gefällt Hans nicht, ein Allerweltsname, den gibt man einem Kind, ohne groß nachzudenken, den gibt man einem Kind, um das man sich nicht kümmert, den gibt man einem Kind, das man nicht liebt. Marie. Wie ein Gift, das der Geist nicht mehr abbauen kann, ist dieser Name, er geht nicht weg, er kommt nicht an, wo er ankommen muss, weil Hans sich dagegen wehrt. Er rennt ins Schlafzimmer, er reißt sich fast die Kleider vom Leib, streift sich hastig den Pyjama über, er
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