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Glut und Asche

Glut und Asche

Titel: Glut und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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trat an die wuc h tige Brustwehr heran und hob in einer dramatischen Geste die Hand, um auf die brennende Stadt hinunterzudeuten. »Sieh, Andrej. Ist es nicht ein herrlicher Anblick?«
    Andrejs Blick folgte der Bewegung, und entsetztes Scha u dern packte ihn, das er weder unterdrücken konnte noch wollte.
    Dass sich das Feuer nicht nur auf das Newgate-Gefängnis beschränkte, hatte er gewusst, doch er begriff erst jetzt das wahre Ausmaß der Katastrophe.
    London brannte. Unter ihnen breitete sich ein Meer von Flammen aus, das die ganze Welt ergriffen zu haben schien, Ta u sende und Abertausende von bösartigen roten Funken, die zum glühenden Herz eines ausbrechenden Vulkans verschmo l zen waren. Hier und da bildeten sie endlos gewundene Schla n gen, wo ganze Straßenzüge Feuer gefangen hatten und selbst die Luft darüber zum Schmelzen zu bringen schienen, dann wieder blickte er auf ganze Seen aus reiner Glut hinunter, als wäre die Hölle selbst aufgebrochen, um ihr flammendes Blut auszuspe i en. Doch es gab auch noch große Bereiche völliger Schwärze, die das Feuer noch nicht erreicht hatte oder über die es schon hinweggezogen und nichts zurückgelassen hatte, was brennen konnte. Aber sie waren in der Minderzahl, und noch während er hinsah, schrumpften sie weiter zusammen, und das Feuer bre i tete sich aus.
    »Ist es nicht wundervoll, Andrej?«, fragte Frederic. »Spürst du ihre Furcht? Spürst du die Angst, die ihre Herzen erfüllt, und ihren Zorn? Fühlst du die Kraft? Du musst sie dir nur nehmen, Andrej. Es ist ein Geschenk. Nimm es dir! Sie werden es nicht einmal merken!«
    Es stimmt, dachte Andrej. Was er bisher nur geahnt hatte, das spürte er nun: Leid, Schmerz und Furcht und maßlosen Zorn auf ein grausames Schicksal, das ihnen willkürlich alles genommen hatte. Diese Gefühle waren ihm nicht fremd. Er hatte sie zahllose Male selbst empfunden und unendlich viel öfter gespürt, und doch war da plötzlich ein gewaltiger Unte r schied: Er fühlte nicht nur den Orkan düsterer Empfindungen und stummer Schreie, er fühlte auch die Kraft, die in all diesem Leid und Zorn schlummerte, und er wusste, dass Frederic recht hatte. All diese Kraft und Energie wartete nur darauf, von ihm genommen zu werden. Er musste nicht einmal etwas tun. Es reichte vollkommen, es zu wollen.
    Aber er wollte es nicht.
    Noch nicht.
    »Du bist ein starker Mann, Andrej«, sagte Frederic. »Das wusste ich immer schon. Aber du bist noch sehr viel stärker geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Er nickte anerkennend. »Es Ist wirklich schade, dass wir uns auf diese Welse wiedersehen müssen ...« Er wiegte den Kopf und zauberte einen Ausdruck kindlich-angestrengter Nachdenklichkeit auf sein Gesicht. »Aber noch Ist ja nicht alles zu spät, nicht wahr? Und - oh ja -Ich hatte dir ja noch eine Überraschung versprochen. Komm mit mir, Andrej.« Er winkte aufgeregt mit beiden Armen und ging los. Andrej folgte Ihm. Allerdings erst, nachdem er noch einen weiteren langen Blick über die Stadt geworfen hatte. London brannte noch nicht zur Gänze. Eine dunkle Linie teilte die brennende Stadt In zwei unterschiedlich große Hälften - die Themse, die ein breitfläch i ges Übergreifen des Brandes bisher noch verhindert hatte. Aber auch diese letzte Barriere würde bald fallen. Überall auf dem Fluss trieben lodernde Feuernester - brennende Trümmerstücke oder Boote -und an zahllosen Stellen hatte das Feuer auch di e sen schwarzen Schlund bereits übersprungen und begann sich auf der anderen Seite des Flusses auszubreiten. London würde sterben, und keine Macht der Welt konnte daran noch etwas ändern.
    Frederic hatte die andere Seite des flachen Daches erreicht und trat wie ein ungeduldiges Kind von einem Fuß auf den a n deren. Erst als er beinahe bei Ihm war, erkannte Andrej, dass er nicht allein auf Ihn wartete. Nur einen halben Schritt neben ihm erhob sich die schwarze Silhouette eines Vampyrs, dessen wahre Natur er erst erkannte, als er Ihn sah, fast, als hätte etwas seine Sinne blockiert und verhindert, dass er die Präsenz des Unster b lichen fühlte. Und natürlich wusste er auch, was -oder wer - dieses Etwas war.
    »Dein Geschenk, Andrej.«
    Frederic deutete mit dem Kopf auf den Vampyr, der darau f hin zur Seite trat und den Blick auf eine zusammengekauerte Gestalt freigab, die bisher hinter Ihm verborgen gewesen war. Andrej erkannte ihn nicht sofort, denn sein Gesicht war rußg e schwärzt, wo es nicht von einer

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