Glutnester
los. Gewöhnliches, durchschnittliches Leben. Eines, das sie nicht hinbekommt. Mit ihrem Kollegen hat sie es sich erst mal verdorben.
»Ein frommer Wunsch«, stellt Degenwald, der dem Frieden keinesfalls traut, enttäuscht fest. »Ich weiß inzwischen, und das ist eine verbürgte Tatsache, dass Sie in Köln weniger im Team denn als Einzeltäterin unterwegs waren. Bei hoher Erfolgsquote. Natürlich. Dafür spreche ich Ihnen meine Anerkennung aus. Aber Ihr Spitzname lautete: Lonely Elsa. Heiligt der Zweck immer und vor allem überall die Mittel?« Degenwald hebt in einer fragenden Geste die Hände. So, als wolle er zumindest Neutralität signalisieren. Dann lässt er sie wieder sinken. Eine Geste endgültiger Aufgabe oder abweisender Gleichgültigkeit. »Nichtsdestotrotz läuft es hier, in Bayern, eben anders. Pro domo, in eigener Sache unterwegs, das kommt nicht gut an. Wir stehen füreinander ein. Teilen Risiko und Arbeit untereinander auf. Gönnen Kollegen die Zeit, die sie für die Ermittlung brauchen. Und am Ende freuen wir uns im Team über den Erfolg oder trösten uns im Fall des Misserfolgs. Ich habe keine Sorge, dass Sie sich auch hier bald einen neuen Spitznamen verdient haben werden. Fragt sich nur, ob er Ihnen und uns bekommt.«
Elsa tut etwas, womit sie selbst nicht gerechnet hat. Sie kommt auf Degenwald zu und hält ihm die Hand hin. Und dann geschieht etwas, das verwunderlicher ist als die Geste ihres Körpers. »Ich verstehe, was Sie meinen«, entgegnet sie. Mit einem Mal geknickt. »Vermutlich ist es höchste Zeit, mich zu entschuldigen. Scheint so, als hätte ich noch eine Menge zu verarbeiten. Und zu lernen. Weniger im Fachlichen. Im Menschlichen.«
Degenwald hat ihre Hand nicht ergriffen. Dazu ist er zu verdutzt und auch in keiner Weise vorbereitet. Seine Hand lehnt, wie so oft, an seinem Körper, als Elsa sie sich nimmt. Sie hebt sie hoch. Und lässt sie in ihrer linken Hand verschwinden. Dann legt sie ihre rechte darüber. Da liegt Degenwalds Hand nun. Fest zwischen ihren Fingern vergraben. Er erwidert – mechanisch oder gewollt, das wissen weder er noch sie – den Druck. Unmöglich, sich ihr im Moment der inneren und äußeren Aufgabe zu entziehen. Elsa weiß nicht, was sie mit diesem Händedruck anrichtet. Für Karl Degenwald ist es die erste Umarmung von Händen seines Lebens. Es scheint so, als injiziere Elsa ihm ein Stück Hoffnung. Direkt ins Fleisch. Damit es von da ins Blut und ins Herz gelangt. Die plötzlich eingestandene Größe, die sie sich durch die Aufgabe des Egos weniger attestiert als vielmehr schenkt, erschüttert Degenwald in seinen Grundfesten. Sie steht ihm endlich als Mensch gegenüber. Ihr ungebremstes Temperament, das sie bis dahin negativ reglementiert hatte, breitet sich in seiner ganzen Pracht vor ihm aus. Es ist der Duft der Ehrlichkeit, der ihm in die Nase steigt. Ihn augenblicklich betört. Er merkt, wie ein Wunsch aufsteigt und ihn quält. Er kämpft dagegen an, ihr auf der Stelle zu gestehen, wie gut sie daran tut, sich ein Stück weit als Mensch zu zeigen. Wie sehr er sie dafür bewundert und schätzt. Weil sie ihre Verletzlichkeit zugibt. Anstatt sie länger zu verbergen. Wo doch nichts je für immer zu verbergen ist. Durch einen Händedruck und eine offen dargebotene Entschuldigung, vor allem aber durch einen warmen, authentischen Blick eröffnet sie ihm eine neue Welt. Er gewinnt an Boden, wo schon alles verloren schien. Es ist dieser Moment, da er fühlt, dass Elsa jemand ist, den er – nach langen Jahren der Abstinenz – wieder innig lieben könnte. Eine Frau, der er mit Freuden zugestehen würde, ganz bei ihm zu sein. Nah an seinem Herzen und seiner eigenen Verwundbarkeit.
»Ich bin die letzte Zeit haarscharf am Abgrund vorbeibalanciert. Privat. Emotional.« Elsa spürt, wie eine furchtbare Enge von ihr Besitz ergreift. Sie versucht, dagegen anzukämpfen. Richtet aber nichts aus. Noch immer hält sie Degenwalds Hand. Presst sie fest zwischen ihren Fingern. »Meine Scheidung und der Neuanfang hier …« Sie stockt. Lässt seine Hand abrupt aus ihren beiden gleiten. Eine drastisch spürbare Entfernung, die Degenwald am liebsten gerichtlich verboten hätte. »… war nicht leicht. Auch wenn ich nicht darüber spreche.« Elsa hebt die Augen. Ein Blick wie brüchiges Papier bohrt sich in sein Innerstes. »Keine Ahnung, wie lange es dauert, bis ich wieder ordentlich Tritt fasse.« Degenwald nickt, und Elsa fährt leise fort. »Ich sage Ihnen das aus einem
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