Glutnester
einzigen Grund. Üben Sie Nachsicht mit mir. Ich bitte Sie.« Elsa spricht die ganze Zeit in Degenwalds visionäre Gedanken und Empfindungen hinein. Jetzt, wo sie damit aufhört und schweigt, explodiert in seinem Gesicht das Glück. Er ist sich dessen nur am Rande bewusst. Seines Antlitzes, das weich und nachgiebig geworden ist. Perfekte Vorlage für die Tuschezeichnung eines Malers, der ein liebendes Gesicht einfangen will. Seiner Augen, die geweitet scheinen und offen auf Elsa ruhen. Elsa, die eine ganze Welt zu sein scheint. Zuversicht, denkt Karl Degenwald. Ich bin zuversichtlich, was das Verhältnis zwischen ihr und mir anbelangt. Er spricht lautlos mit sich selbst. Diese Frau ist einen Vertrauensvorschuss wert. Denn darauf folgt gewöhnlich – und in diesem Fall hofft er inständig darauf – die Bestätigung der Zuversicht. Und echte Bindung. Die besteht darin loszulassen. Den anderen. Sich selbst. Das Leben in seiner verborgenen Stille erkennen. Das ist das Gegenteil jedes Verbrechens. Die beste Versicherung gegen Mord. Denn Mord braucht falsch verstandene Bindung. Solche, die im Festhalten ausharrt und deshalb eines Tages unschöne Bilder hervorbringt. Das Leben verliert seine erhabene Stille. Das laute Brausen irriger Gedanken wird geboren. Und alles nimmt seinen schrecklichen Lauf.
11. Kapitel
In der Nacht schreckt Elsa hoch. Ein Traum hat sie in eine furchtbare Geschichte verwickelt. Lässt sie endlich frei. Erleichtert atmet sie auf. Froh, nur einem Hirngespinst aufgesessen zu sein. Dann blickt sie sich um. Versucht, sich zu orientieren. Vergegenwärtigt sich, dass sie zu Hause und alles in Ordnung ist. Doch seltsamerweise mag das nicht gelingen. Der kurze Moment der Erleichterung verfliegt so schnell, wie er gekommen ist. An seiner statt kriecht undurchdringbare Schwärze Elsas Körper hinauf. Geradezu fassbare, bedrückende Schwärze. Dieselbe, die sie im Traum gefangen hielt. Jetzt ist sie hier, in ihrem Schlafzimmer. Außerdem schmerzt ihr Kopf, als habe sie ihn sich irgendwo angestoßen und es nur nicht bemerkt. Elsa fasst sich mit der Hand an die Stirn. Stöhnt leise auf. Auf dem Nachttisch fehlt das Glas Wasser, das sie sonst immer dort stehen hat. Weil sie nachts oft Durst bekommt. Sie bemerkt das Fehlen, weil ihre Hand genau dorthin tastet, wo das Glas normalerweise von ihr abgestellt wird und jetzt gähnende Leere herrscht. Nach der Besprechung mit Degenwald am vergangenen Abend und dem späteren vergeblichen Versuch, etwas zu entschlüsseln, was mit dem unsinnigen Brief an sie zu tun hat, hat sie die normalsten Abläufe vergessen.
Unten, im Erdgeschoss, hört Elsa plötzlich ein beängstigendes Geräusch. Es klingt, als würde jemand gegen die Hauswand klopfen. Leise, aber stetig. Elsa steht – ohne Licht zu machen – auf. Der Raum atmet inzwischen ihre Angst. Die Wände haben sich damit vollgesaugt. Alles drückt die Bestimmtheit des Schrecklichen und die Begleiterscheinung der Verzweiflung aus. Auf einmal bleibt Elsa stehen. Die Angst bemüht sich derart um sie, dass sie sie fast lähmt. Die Angst beginnt, ihre Körperfunktionen zu steuern. Jede Bewegung zu kontrollieren. Selbst die kleinste. Könnte dieser Wahnsinnige draußen vorm Haus sein? Der, der ihr den Brief geschickt hat, ohne sich zu erkennen zu geben? Elsa muss all ihre Kräfte zusammennehmen, um ihren Füßen den Befehl zum Gehen zu geben. Schwere Schritte tasten sich zurück zum Bett. Eine unsichere Hand tappt nach dem Handy am Nachttisch, findet es und ruft, nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen, Bens Nummer auf. Bevor die Verbindung hergestellt ist, drückt Elsa zitternd die rote Taste. Von Prien, wo Ben wohnt, bis hierher ist es zu weit. Bis Ben bei ihr ist, könnte alles Mögliche passiert sein. Elsa entscheidet sich um. Sie muss vor allem an ihre Tochter denken. Anna darf nichts geschehen. Noch immer zitternd, ruft sie Karl Degenwald an. Der wohnt am Kirchacker. Gleich um die Ecke und den Weg Richtung Hochgern hinauf. Der Gedanke macht Elsa Mut. Degenwald ist ganz in der Nähe. Er könnte in wenigen Minuten bei ihr sein. Die Zeit bis dahin kann sie überbrücken. Trotz der unmöglichen Uhrzeit – es ist kurz vor drei – geht er tatsächlich ans Handy. Elsa atmet erleichtert auf.
»Können Sie zu mir kommen? Sofort. Unten ist jemand«, verlangt sie. Dabei klingt sie weniger bestimmt, als sie vorhat. Eher wie ein bettelndes Kind.
Degenwald erfasst die Situation augenblicklich. Zögert keine Sekunde. »Ich bin
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