Glutnester
er.
»Dem Forstarbeiter, der Veronika gefunden hat?«
»Genau«, bestätigt Ben. »Vermutlich ist er gestolpert und sein Ohr hat das Fenster berührt. Ich hab mit ihm gesprochen. Er konnte sich wieder daran erinnern.«
»Na ja, zumindest wissen wir jetzt, dass uns das nicht weiterbringt. Gibt’s sonst noch was?«, will Elsa wissen.
»Nichts. Leider. Außer der Sache mit dem Slip.«
»Welcher Slip?« Elsa horcht alarmiert auf.
»Hat Karl noch nichts erzählt? Ein Damenslip kleiner Größe wurde an die Rechtsmedizin geschickt. Vermutlich mit Filzstift hat jemand ›Luise‹ drauf geschrieben. Michael hatte den Slip dabei.«
Elsa kann einen widerspenstigen Blick nicht verhindern. Einen, der kein passendes Gegenüber findet. »Ich rufe Degenwald später an. Momentan hab ich die Gerry Kratzer bei mir.«
»Verstehe. Ich melde ich wieder.«
»Danke, Ben. Und servus.« Elsas Stimme klingt eine Spur wärmer als zuvor. Sie glaubt, trotz fehlender privater Worte die Lauterkeit von Bens Empfindungen aus seiner Tonlage herauszuhören. Das stärkt sie. Auch wenn sie sich über Karl Degenwalds vergessene Mitteilung, was diesen Slip anbelangt, höllisch ärgert.
Elsa schaut hoch, um sich wieder ganz auf Gerry zu konzentrieren. Die ist die ganze Zeit über einfach dagesessen. Elsa reicht ihr einige Gegenstände, die sie aus der Tasche nimmt. Einen Stein, ein abgewetztes, beschädigtes Holzteil, einen Bären mit nur einem Ohr, mit dem Anna früher immer gespielt hat, und Knetgummi. Elsa will Gerrys Vorliebe, sich durch Riechen, Tasten und Mundkontakt auszudrücken, nutzen. Wozu auch immer. Gerry lässt sich die Gegenstände in den Schoß legen. Völlig unbeteiligt. Ohne mit Elsa Blickkontakt aufzunehmen. Oder auch nur einen Mucks von sich zu geben. Es scheint, als nehme Gerry in keiner Weise Notiz von der Frau gegenüber. Auch nicht von den Dingen, die diese Frau ihr in den Schoß gelegt hat.
Helga Kratzer hatte Elsa darauf hingewiesen, dass Gerry ›Du‹ sagt, wenn ›Ich‹ gemeint ist. Ein Gespräch in normaler Weise wäre grundsätzlich nicht möglich. Wie überhaupt ein Verhör Idiotie wäre. Elsa weiß, dass sie hier nichts ausrichten wird. Aber vielleicht bewirkt sie, indem sie mit Gerry zusammen ist, etwas bei den Eltern. Oder bei Roland Gasteiger.
Der scheint von der Bildfläche verschwunden zu sein. Treibt sich nur noch im Stall oder sonst wo herum. Und sagt kaum etwas. Höchstens mit seinem Blick. Einem, der von einer Beziehung in der Möglichkeitsform zeugt. Er trauere auf seine Weise, hatte Helga Elsa wütend an den Kopf geworfen. »Der Tod ist ein Gefühl wie eine gewaltige Eruption, sagte mein Vater zu mir.« Und selbst, wenn man dieses Gefühl irgendwie überlebt, kommen neue Herausforderungen. Seine Frau werde noch nicht mal ordentlich beerdigt. Das könne einen schon aus dem Tritt bringen.
Elsa weiß aus Erfahrung, dass zumindest im Innersten eines dieser Menschen – hinter den offensichtlichen Verhaltensmustern – eine Verräterei lauert. Unverwischbare Absonderlichkeiten. Irgendeine Spur blieb immer zurück. Und genau die wird sie aufdecken.
10. Kapitel
Im Sommer, als alles begann, hatte er sich eine Weile als Lastkraftwagenfahrer verdingt. Er war lange von zu Hause fort gewesen. Eines Tages hatte er am Wegrand eine junge Frau gesehen, die Äpfel vom Baum klaubte. Das Gewicht ihres Körpers lehnte in der Hitze des fortgeschrittenen Tages an der Leiter. Ihr Gesicht troff vor Schweiß. Ihre Hand streckte sich einer Frucht entgegen. Riss daran. Schnappte sie sich. Und barg den Apfel. Einen Moment schaute sie den rotwangigen, dicken Apfel an, als sei er eine Offenbarung, zögerte, überspielte das Zögern und biss – mit einem flüchtigen Blick nach links und rechts – in die Frucht hinein. So, als tue sie etwas Verbotenes. Ein großer, ausladender Biss ohne jede Hemmung. Der zuckrig-süße Saft des Apfels rann ihr Kinn und den Hals hinunter.
Während er sie beobachtete, hatte er gespürt, wie sich etwas in ihm regte. Er konnte nur ein Wort denken: saftig. Und dann ein zweites und drittes: nasse, saftige Lust. Er riss ihr in Gedanken – fürchterlichen Gedanken – die Wäsche vom Leib. Zuerst den Stoff der unansehnlichen Unterhose, die sie, da war er sich sicher, unter dem Arbeitsgewand trug. Aber das störte ihn nicht. Aufs Aussehen kam es ihm nicht an. Eher aufs Riechen und Vorstellen. Er wusste, dass sie mit ihren deftigen Schenkeln das kleine Stück Stoff ihres Slips zusammenpresste. Dieses
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