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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
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man davon ausgehen, dass etwas dahintersteckte. Die Frage war nur, was? Bei der Toten, Luise Gasteiger, hatte es sich genau umgekehrt verhalten. Sie hatte die Annäherung zu ihrem Mann langsam aufgelöst. Jahr um Jahr und jeden folgenden Tag ein bisschen weiter voneinander weg. Körperlich, seelisch, geistig. Jetzt trat die nächste Frage zutage. Wo, wie und mit wem hatte Luise dieses jahrelange Manko bekämpft? Denn niemand konnte auf Dauer ohne Annäherung, ohne ein seelisches oder körperliches Gegenüber leben. Und wie war ihr Mann mit einer Distanz, die sich zu einer meterhohen Welle auswuchs, umgegangen? Wohin hatte er seine Bedürfnisse gesperrt? War Luise Gasteiger ermordet worden, weil sie hinter die drohende Schuld des Wortes ›Annäherung‹ gekommen war?
    Elsa spürt, dass sie einen Tag lebt, der wie mürbes Gebäck ist. Die Stunden zerbröseln ihr zwischen den Fingern. Der Gedanke an den Brief, den sie in ihrem Briefkasten gefunden und den man ihr aufgedrängt hatte, bringt einen feinen Haarriss zutage. Dieser schmale Riss, kaum zu erkennen, tut sich mehr und mehr vor ihr auf. »Die Unmöglichkeit … das Leben je ganz zu begreifen … einen Menschen … völlig zu kennen«, murmelt Elsa stockend. Plötzlich wird ihr der Rhythmus des Ungesagten, der sich immer, früher oder später, zwischen Menschen auftut, außerordentlich bewusst. Sie schluckt und schaut an Gerrys starrem Blick vorbei. »War schön, mit dir zu plaudern«, sagt sie. »Du hast mir etwas Entscheidendes klargemacht. Die Brisanz des Wortes ›Annäherung‹. Danke dafür!« Elsa steht auf, öffnet die Tür und ruft in die Enge des Flurs hinein nach Gerrys Mutter.
     
    »Dass Sie derart konditioniert sind, hätte ich nicht gedacht.« Elsa, die zurück im Büro ist, beugt sich über Degenwalds Schreibtisch. Geradeso, als wäre es ihrer. Nicht seiner. »Man kann wirklich nicht behaupten, dass Sie sich verausgaben, was die Kommunikation mit mir anbelangt. Oder wie erklären Sie sich, dass Sie mir einen Slip verschweigen, auf den jemand ›Luise‹ geschrieben hat? Ein wichtiges Beweisstück.« Elsa schnaubt laut auf, kommt noch ein Stück näher an Degenwald heran und spricht dann weiter. »Wollen Sie die Aussicht auf eine gute Zusammenarbeit kappen, noch bevor ein Band zwischen uns gewachsen ist? Ein dünner Faden, an dem wir uns zwar noch nicht festhalten, aber immerhin orientieren könnten.«
    »Liebe Frau Wegener«, startet Degenwald seine Entgegnung, als beginne er eine förmliche Ansprache. Er steht auf, um etwas Abstand zwischen sich und Elsa zu bringen. Abstand, der dringend nötig ist. Dabei mahlt er mit den Zähnen, als müsse er etwas Unbekömmliches zerkleinern und rasch hinunterschlucken. »Unserer Zusammenarbeit könnte man eine Fallstudie bezüglich der Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern zugrunde legen. Ressentiments auf beiden Seiten. Gebe ich zu. Aber von Ihrer Seite sind sie derart vehement, dass es schon unangenehm ist.« Degenwald macht eine kurze Pause. »Und das ist eine Beschreibung zu Ihren Gunsten.« Er registriert einen schalen Geschmack auf der Zunge und spricht weiter. Emotionaler als zuvor. »Und was Ihre Frage anbelangt. Da wären zuerst einmal Komponenten wie Zeit, dringend zu erledigende Angelegenheiten und der Punkt Gelegenheit anzuführen. Erst danach kämen: Willkür, Vergesslichkeit, Dummheit oder Vorsatz.«
    Elsa hat ihre Arme vor der Brust verknotet und schaut Degenwald einen Moment nüchtern an. Dann nimmt ihr Blick etwas Unerwartetes an. Eine innere Färbung. Degenwald kann dabei zusehen, wie ihr Ausdruck ein anderer wird. Keinesfalls kleinlaut, wie man vermuten könnte. Auch nicht geständig, weil sie sich eines Fehlers bewusst wird. Elsa wirkt ehrlich. Geradezu erschreckend ehrlich. Als er diesen Blick verdaut hat, bemerkt Degenwald, dass Elsa schmunzelt. Sie schmunzelt genussvoll und lange. Ein Schmunzeln, das ihr Grübchen im Kinn sich ins dehnende Fleisch hinein auflösen lässt.
    »Eine Strafpredigt von Ihnen, wo ich mir fest vorgenommen hatte, bei diesem Fall relaxter vorzugehen?« Elsa lacht kurz auf und entknotet ihre Arme dabei. Jetzt steht sie frei da. Ungeschützt. »Wir zwei zusammen, hab ich mir gedacht. Spurentechnik und Gerichtsmedizin als nötige Verstärkung. Das schon. Aber hier, vor Ort, ganz nah dran, zuerst einmal wir.« Elsa schüttelt den Kopf. Ausschließlich für sich selbst. Dabei blickt sie aus dem Fenster. Draußen ist nichts Besonderes zu entdecken. Nichts

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