Glutnester
Er erwidert nichts auf ihre Anschuldigung. Ignoriert mit stoischer Ruhe sämtliche Blicke. Elsa schluckt. Ihr kommt plötzlich ein Gedanke. Was, wenn Degenwald sie angerufen hat, um sie von ihrer Scheidung und Köln, dem Ort dieser belastenden Vergangenheit, wegzuholen? Ein Freundschaftsdienst. Ohne dass sie Freunde wären.
Was sie verbindet, ist lediglich die gemeinsame Arbeit, die versucht, Toten eine Sprache zurückzugeben. Elsa merkt, wie sie sich auf die Zunge beißt. Immer schön auf die Spitze, wo es am meisten wehtut.
»Und weshalb rücken wir an?«, spricht sie, nun merklich freundlicher, weiter. »Was können wir tun?«
»Das wird Hörnchen uns gleich erzählen. Vielleicht ist er auf was Interessantes gestoßen.«
»Wen haben Sie denn inzwischen verhört?«, will Elsa noch wissen.
»Roland Gasteiger, Luises Mann. Er war geschockt, aber irgendwie auch gefasst. Außerdem Helga Kratzer und ihren Mann Hubert. Der wird allerdings nur Hubs genannt. Helga ist die Tochter der Gasteigers. Patente Person. Manchmal aber ein bisschen verschlossen. Hubs ist der Schwiegersohn. War Bauzeichner, arbeitet seit der Ehe mit Helga auf dem Hof; genau wie seine Frau auch, die früher beim Tierarzt Helferin war. Dann gibt’s noch zwei Kinder: Maria, 13, ziemlich frühreif. Sie nennt sich Marissa, weil’s cooler klingt. Hübsches Mädel. Aus der wird mal was. Nicht nur rein optisch. Die hat was im Kopf. Und dann ist da noch Gerry, 10. Autistisch. Eine Geschichte, die schwer auf der Familie lastet. Sprechen will keiner darüber. Schon immer. Ist die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, meinte Helga zu mir.«
»Brauchbare Hinweise hatte vermutlich niemand.«
»Schön wär’s. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Es wäre ein Tag wie viele andere gewesen. Man habe eigentlich nur pro forma ins Zimmer der Mutter schauen wollen. Weil man sie so lange nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. Seltsamerweise sei das Zimmer abgeschlossen gewesen. Der Schlüssel steckte nicht. Weder von außen noch von innen. Er ist bis dato unauffindbar.«
»Wer hat die Tote entdeckt?«
»Ihr Mann. Der Roland. Er hat die Tür aufgebrochen.« Degenwald hört auf zu sprechen und deutet nach vorne. Auf Michael Horn, der wie eine Statue vor einem schmucken Bauernhaus steht. »Vielleicht war’s ja so. Ein Tag wie jeder andere auch. Nur, dass er mit dem Tod eines Menschen endete.«
Elsa parkt vorm Eingang des Hofs. Eines weiß getünchten großen Gebäudes mit viel nachgedunkeltem Holz ab dem ersten Stockwerk. Daneben weitläufige Stallungen, nachträglich angebaute Garagen und ein kleines Gebäude, von dem Elsa keine Ahnung hat, was sich darin befindet. Vor ihnen steht der Gerichtsmediziner, der von München heruntergekommen ist und sie erwartet.
»Servus, ihr beiden!«, grüßt er, pocht mehrmals gegen Elsas Scheibe und lupft den Hut, der oben drauf einen ordentlichen Buschen irgendeines Tieres zu bieten hat.
»Servus, Hörnchen«, revanchiert Karl Degenwald sich und klopft Michael Horn, nachdem er aus Elsas Golf ausgestiegen ist, jovial auf die Schulter. Elsa nickt zuversichtlich und bekommt einen ganz passablen Handschlag als Begrüßung.
»Gut, dass ihr da seid«, beginnt Hörnchen. »Und was für ein Glück, dass ich gestern in meiner Behausung in Marquartstein in die seligen Kissen sinken durfte. Da ließ sich das praktisch Geforderte mit dem angenehm Gewollten verbinden. Die Hektik und der Dreck Münchens können ohne Weiteres bis morgen auf mich warten.«
»Hast du denn was für uns, Michael? Gestern warst du immerhin in der Stadt und hast obduziert. Das gibt Hoffnung.« Degenwald scheint es ausnahmsweise eilig zu haben.
»Wir haben eine Tote. Luise Gasteiger«, beginnt Hörnchen, als müsse er eigens für Elsa, die Nachzüglerin, eine Inhaltsangabe verfassen. »Sie litt unter Diabetes, Typ 2. Wenn der Blutzuckerspiegel durch Diät, verstärkte körperliche Betätigung und Gewichtsabnahme nicht ausreichend gesenkt werden kann, wird gern das Medikament Euglucon eingesetzt, das unsere Luise auch fleißig geschluckt hat. Ich hab mich mit ihrem Hausarzt kurzgeschlossen. Außerdem haben wir Abbauprodukte des Wirkstoffes dieses Medikaments in ihrem Körper gefunden. Tatsächlich ist sie aber an akuter Unterzuckerung gestorben. Vermutlich, weil sie nach der Tabletteneinnahme nicht genügend Kohlenhydrate zu sich genommen hat. Dadurch wurde der Blutzucker zu stark gesenkt und es kam zu Hypoglykämie.«
Degenwald schaut Michael Horn mit
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