Glutroter Mond
weiß, dass es dahinter nichts mehr gibt als das Ende der Welt und den Himmel, aus dem die Viren gekommen sind. Ich fühle mich sicher hinter der Barriere.
Neal folgt meinem Blick. Wir sitzen oft an diesem Ort, der südlichsten Spitze der Landzunge, und sehen auf das Wasser hinaus. Hinter uns erstreckt sich ein kleiner Park, aber dort wachsen nur verdorrte hässliche Bäume, deren Äste verkrüppelt sind. Die Pflanzen im großen nördlichen Park sind hingegen noch belaubt.
»Siehst du dir die grüne Dame an?«, fragt Neal mich leise.
Ich nicke. »Ja. Sie sieht so einsam aus.«
In der Ferne gibt es eine kleine Insel vor der Küste unserer Stadt, direkt dahinter flirrt der Energieschild. Ich kann die Distanz nicht schätzen, aber es ist sicherlich mehr als eine Meile. Auf der Insel thront eine seltsame Statue, sie ist hellgrün. Ich habe mir oft gewünscht, meine Augen wären besser, damit ich ihr Gesicht erkennen kann, doch sie ist viel zu weit entfernt. Wenn ich ehrlich bin, kann ich sie fast gar nicht erkennen. Alles, was ich sehen kann, ist, dass sie ihren rechten Arm in die Höhe reckt und etwas nach oben hält. Die Statue wird von den Einwohnern nur die
grüne Dame
genannt.
»Glaubst du, die Menschen der alten Welt haben sie auf diese Insel verbannt?« Ich wende Neal den Kopf zu. Er zuckt nur die Achseln.
»Das weiß ich nicht. Es ist ebenso möglich, dass die Obersten sie als Wahrzeichen errichtet haben.« Er zeigt mit dem Finger in ihre Richtung. »Siehst du? Sie trägt eine Krone mit sieben Zacken. Das Symbol der Obersten ist ein siebenzackiger Stern, vielleicht gibt es einen Zusammenhang.«
»Du kannst ihre Krone erkennen?« Ich kann es kaum glauben und ärgere mich zugleich, dass er mir das nie zuvor erzählt hat. Ich habe alle meine Bücher nach Informationen über die grüne Dame abgesucht und nichts gefunden. Und jetzt sagt er mir ganz beiläufig, dass ihre Krone sieben Zacken hat!
»Nun ja, das habe ich nur deshalb erkannt, weil ich einmal durch ein Fernrohr gesehen habe, das ich mir aus einer alten Brille gebaut habe.« Er lächelt und sogleich schmilzt mein Verdruss dahin.
»Glaubst du auch, dass dies hier ein Werk der Obersten sein könnte?« Ich öffne den Reißverschluss der linken Brusttasche meines Anzuges und ziehe eine abgegriffene Karte aus stabilem Karton hervor.
»Die Pappe?«
»Nein, das, was darauf abgebildet ist, du Dummerchen!« Ich knuffe meinen Freund in die Seite und halte ihm die Karte unter die Nase. Sie ist mein größtes Heiligtum und alles, was mir von meinen Eltern geblieben ist.
Er sieht sich das Bild an und schüttelt den Kopf. »Das ist vielleicht nicht echt. So einen Ort kenne ich nicht. Ich würde an deiner Stelle nicht zu viel hinein interpretieren.«
Ich sehe mir selbst noch einmal das Bild an, obwohl ich es schon tausend Mal getan habe. Es ist das lebensechte Abbild eines Hügels, auf dem übermannsgroße Buchstaben thronen.
Hollywood
steht dort. Ich bilde mir ein, meine Eltern hätten mich nach dieser Karte benannt. Die Rückseite ist komplett weiß und unbeschriftet. Mein größter Wunsch ist es, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wie gerne würde ich meine Eltern fragen, was es damit auf sich hat!
Enttäuscht stecke ich sie zurück an ihren Platz und verschließe den Reißverschluss.
»Ich weiß, dass du oft an deine Eltern denkst.«
Es kommt mir vor, als wäre Neal noch näher an mich heran gerutscht. Ich nehme den Geruch seiner Haut wahr, Staub und Seife. Sein Gesicht ist nur einige Zoll neben meinem. Mein Blick haftet an der kleinen Narbe über seinem rechten Auge, die ihr nur sehe, wenn er mir so nah ist wie jetzt. Vor einigen Monaten hat Neal sich bei der Arbeit verletzt, ein scharfes Stück Blech hat ihm die Haut aufgeschnitten. Jetzt zieht sich eine feine Linie durch seine Augenbraue, auf der keine Haare wachsen.
Ich möchte nicht, dass Neal mit mir über meine Eltern spricht und wünsche mir, er würde still sein. Ich ringe schon wieder mit den Tränen. Dabei habe ich weniger Grund dazu als Neal, immerhin hat er seine Eltern gekannt und ich nicht. Für ihn muss es sich schlimmer anfühlen als für mich, trotzdem jammert er nie oder verliert auch nur ein Wort über seinen Kummer.
Als das Schweigen zwischen und anfängt, peinlich zu werden, sage ich schließlich doch etwas, aber meine Stimme klingt brüchig. »Ich wünsche mir, meine Eltern jenseits der Brücke wiederzusehen.«
Kaum ist der Satz heraus, bereue ich ihn auch schon. Es muss
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