Glutroter Mond
Kleidung gesäubert habe, sitze ich jetzt frierend und nur in Unterwäsche bekleidet neben meinem Anzug auf dem nackten Betonboden der Halle. Ich habe ihn über ein rostiges Stahlrohr gelegt, das sich an dieser Stelle aus der Verankerung an der Decke gerissen hat und auf Kopfhöhe schräg über dem Boden hängt. Herrje, wenn der Stoff weiter so stark tropft, dauert es eine ganze Woche, ehe das Teil getrocknet ist. Ich möchte eigentlich nicht, dass Cade mich in Unterwäsche sieht, aber es ist unvermeidbar. Sollte ich mich schämen? Vermutlich eher nicht. Ich wette, er hat in seinem Leben schon viele leicht bekleidete Frauen gesehen. Und hat es nicht auch schon einen wesentlich intimeren Moment zwischen uns gegeben, als er in meine Seele getaucht ist und etwas von mir genommen hat? Habe ich nicht sogar seine Erinnerungen gesehen? Mir sollte es egal sein, was er von mir denkt. Das Verhältnis zwischen uns ist ohnehin verstrickt. Er hat mich entführt, mich gedemütigt, mich töten wollen und sich schließlich von mir das Leben retten lassen. Einfach verrückt! Und jetzt campieren wir gemeinsam in einer alten Halle, in Sichtweite meiner Heimat. Als ich an der Kaimauer gestanden habe, konnte ich den flirrenden Schild um meine Stadt sehen - Manhattan, wie ich jetzt weiß. Es seltsames und beängstigendes Gefühl, auf der anderen Seite zu stehen.
Das laute Kreischen der rostigen Tür lässt mich zusammenfahren. Mein Kopf schnellt herum, doch es ist nur Cade, der hereinkommt. Erleichterung lässt mein Herz wieder langsamer schlagen. Noch vor wenigen Tagen hätte gerade sein Anblick mir Angst eingeflößt, da hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als einen
Obersten zu sehen. Jetzt ist es genau andersherum. Verkehrte Welt.
Er kommt mit festen Schritten auf mich zu. Sein Gang ist aufrecht, er strahlt eine natürliche Männlichkeit aus, die mir einen Schauder über den Rücken jagt. Cade ist sehr groß, etwas größer sogar noch als Neal. Seine Schultern sind breit und sein Blick entschlossen. In seiner Nähe fühle ich mich sicher.
Unter seinem Arm klemmt ein Brot. Ich habe es am Duft erkannt. Wo hat er es her? Im großen Park in Manhattan wird während der gemeinsamen Mahlzeiten manchmal ein Brot herumgereicht, das jedoch anders aussieht. Nicht oval und mit hellerer Kruste. Mir ist nie bewusst gewesen, dass auch andere Menschen außer den Obersten Brote herstellen können.
Bevor Cade auf mich zukommt, betrachtet er den tropfenden Anzug neben mir. Die Pfütze ist weiter angewachsen. Er verzieht das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. Natürlich. Er hasst Wasser. Doch er widmet meinem Kleidungsstück nur kurz seine Aufmerksamkeit, ehe sein Blick blitzschnell in meine Richtung zuckt. Kurz mustert er mich von oben bis unten.
»Du trägst nur Unterwäsche.«
»Mein Anzug war schmutzig. Ich habe ihn gewaschen.«
»Deine Haare sind nass.«
»Das ist nun einmal so, wenn man sich wäscht.«
Seine Mundwinkel zucken ein wenig, als deutete er ein amüsiertes Lächeln an. Mir gefällt die Veränderung an ihm. Bis gestern hat er nie gelächelt.
Cade legt das Brot vor mir ab. »Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«
Zögerlich greife ich danach. Es ist noch etwas warm. »Woher hast du das?«
»Die Menschen in Jersey City backen auch. Sie haben genug davon.«
Ich frage nicht weiter nach. Ich bin mir sicher, dass er es gestohlen hat, aber das ist mir seltsam egal. Ich breche das Brot zuerst in zwei Teile und reiße dann ein großes Stück heraus, das ich mir in den Mund stecke und kaue. Es ist noch frisch, Dampf steigt aus dem Inneren heraus. Es schmeckt anders als die Brote, die ich kenne.
»Danke«, presse ich mit vollem Mund zwischen zwei Bissen hervor. Cade nickt nur. Er lässt sich ein wenig abseits von mir und der Wasserpfütze auf dem Boden nieder. Mir fällt auf, dass er blasser ist als sonst. Auf seiner Stirn sind Falten und in seinen Augen liegt ein trauriger Ausdruck. Es jagt mir einen Schrecken ein. Es ist ungewohnt, ihn so verletzlich zu sehen. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
»Was ist los mit dir?«, frage ich.
Cade dreht langsam den Kopf in meine Richtung. Zuerst antwortet er nicht, als würde er sich darüber wundern, dass ich überhaupt gefragt habe. Ich kann beobachten, wie es in seinem Gehirn arbeitet.
»Es mag sich komisch für dich anhören«, sagt er schließlich, wobei seine Stimme leiser ist als zuvor. »Aber ich möchte nicht mehr sinnlos töten. Es fühlt sich falsch
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