Glutroter Mond
kann sich kein Mensch widersetzen, sollte die Todesangst in ihm auch noch so wild toben. Ich lege meine beiden Zeigefinger auf seine Schläfen. Von diesem Moment an habe ich mit keiner Gegenwehr mehr zu rechnen. Er entspannt sich, sein Oberkörper liegt schlaff in meinem Schoß, sein Kopf fällt nach hinten und starrt in den Himmel hinauf, ohne einen Punkt zu fixieren.
Ich spüre, wie etwas durch meine Fingerspitzen strömt, hinein in meine Adern. Ich habe zwar keinen Hunger, aber der Appetit kommt bekanntlich beim Essen. Ich hätte die Verbindung nicht mehr unterbrechen können, selbst, wenn ich es gewollt hätte.
Ich schmecke Angst. Verzweiflung. Wie immer eigentlich. Die Menschen, an denen wir uns vergehen, verspüren zur Zeit der Emotionsübertragung selten etwas anderes. Man kann es ihnen nicht verübeln. Aber der Geschmack langweilt mich, er ist eintönig, immer dasselbe. Angst und Verzweiflung können einen Acrai am Leben erhalten, denn es zählt nicht die Art der Emotion, aber nach einer Weile sehnt man sich nach etwas anderem. Ist das der Grund, weshalb ich mich so seltsam fühle, seit ich von Hollys Emotionen gekostet habe? Sie waren anders gewesen. Sie hat sie mir freiwillig gegeben. Es war nicht nur Angst, jener bittere Geschmack, den ich inzwischen so sehr verabscheue. Nein, es war auch Sorge, Mitleid und noch etwas Süßes. Liebe? Es hat mich erfüllt, vollkommener, als ich es je zuvor erlebt hatte. Und es hat mich verändert, scheint eine Kaskade eigener Emotionen in mir angestoßen zu haben. Ja, ich kann wieder fühlen. Mitleid ist nicht mehr nur ein Wort meines Wortschatzes. Holly hat mir
gezeigt
, wie es sich anfühlt, als sie sich meiner erbarmt und mir mit ihrer Energie das Leben gerettet hat.
Ich lasse den Mann in meinen Armen zu Boden gleiten. Er ist tot. Und dennoch geht es mir jetzt kein bisschen besser. Ein fader Geschmack liegt auf meiner Zunge. Ich fühle mich nicht gesättigt, eher überfressen. Und zwar mit etwas, das mir nicht geschmeckt hat. Am liebsten hätte ich mich übergeben, wenn ich hätte sicher sein können, dass es etwas geändert hätte.
Vince hingegen grinst. Auch er hat von seinem Opfer abgelassen. Die beiden Menschen liegen vor uns, als würden sie schlafen. In ihren Gesichtern liegt ein Ausdruck von Frieden. Bevor sie ihren letzten Atemzug getan haben, haben wir ihnen die Angst genommen, indem wir alles aus ihnen herausgesaugt haben. Gar kein so schlechter Tod, geht es mir durch den Kopf. Mein einziger Trost. Dennoch meldet sich mein Gewissen. Ich habe jemanden getötet. Verdammt, weshalb interessiert mich das überhaupt? So süß es auch sein mag, Liebe und Mitleid empfinden zu können, so schmerzhaft kann es auch sein.
»Gehen wir?«, reißt Vince mich aus meinen Gedanken. »Es sieht nach Regen aus und ich bin mit einem Motorrad da. Ich möchte zurück sein, ehe ich nass werde.«
Ich nicke. »Ich hole das Auto. Ich komme bald nach.« Ich stehe auf und gehe zu der Stelle, an der ich das Brot abgelegt habe. Vince folgt mir.
Wir gehen noch bis zum Ende des Piers nebeneinander her, ehe sich unsere Wege trennen. Ich verspüre Erleichterung darüber. Auf dem Weg zurück zur Lagerhalle denke ich darüber nach, welche Alternativen mir offen stehen. Abhauen und mich irgendwo verstecken? Mit Holly? Klingt verlockend, aber irgendwie feige. Außerdem weiß ich nicht, wie lange meine Appetitlosigkeit noch anhalten wird. Irgendwann werde ich wieder töten müssen. Wenn ich zurück ins Quartier gehe, kann ich die Vorzüge der Maschine genießen. Ich müsste nicht bei jeder Nahrungsaufnahme ein Menschenleben nehmen. Wäre das nicht am Ende der bessere Weg? Mit Holly zu verschwinden erscheint mir egoistisch. Zumal ich es von ihr auch nicht verlangen kann. Es ist einfach dumm!
Mit gemischten Gefühlen stoße ich die rostige Flügeltür zur Lagerhalle auf.
Kapitel vierzehn
Holly
Unter dem Anzug hat sich bereits eine kleine Pfütze gebildet, von den Hosenbeinen tropft stetig Wasser. Ich habe es nicht geschafft, es komplett herauszudrücken. Generell hatte ich keine Ahnung, wie ich die Flecken herausbekommen sollte. Es ist mir auch nur unzureichend gelungen. Am Kragen befindet sich noch immer ein großer, rotbrauner Blutfleck. Der Anzug riecht auch nicht so gut wie sonst, wenn ich ihn in der gelben Plastikkiste aus der Wäscherei der Zentrale zurückbekommen habe.
Nachdem ich hinter der alten Halle, in der Cade mich zurückgelassen hat, notdürftig gebadet und meine
Weitere Kostenlose Bücher